Dietmar Först, Dietrich Steinwede (Hrsg.): "Die Jenseitsmythen der Menschheit"

Die Sehnsucht nach dem Paradies


Archäologische Funde bestätigen, dass es ein besonderes Merkmal des Homo sapiens war, seine Toten zu bestatten und die Gräber kunstvoll auszuschmücken. Das Mensch-Sein in diesem Sinne begann vor etwa 100 000 Jahren mit der Entwicklung des Ich-Bewusstseins und dem daraus resultierenden Nachdenken darüber, was nach dem Tode in einem wie auch immer gedachten Jenseits folge. In nahezu allen Kulturen der Welt gewann die Auffassung Gültigkeit, dass der Tod kein Ende sei, sondern ein Durchgang.

Es entstanden Jenseitsbilder, die kulturabhängig durch die diesseitige Erfahrungswelt geprägt waren. In manchen Religionen wurden Jenseitsvorstellungen instrumentalisiert, um die Menschen moralisch zu beeinflussen. Einer lichterfüllten Oberwelt wurde eine düstere Unterwelt gegenübergestellt. Das Verhalten im Diesseits solle entscheidend sein für die Erwartung im Jenseits. Das Christentum fügte das Purgatorium (Fegefeuer) als läuternde Durchgangsstation zur ewigen Seligkeit hinzu.

Grundsätzliche Unterschiede bestehen zwischen dem linearen Weltbild der Juden, Christen und Muslime und dem zyklischen Weltbild der Hindus und Buddhisten. Dem Glauben an "ein" irdisches Leben und dem ewigen Leben bei Gott als Erlösung steht ein irdischer Kreislauf von Wiedergeburten gegenüber, dem es gilt, durch "Befreiung" oder "Verlöschen" zu entkommen.

Für manche ethnische Religionen ist der Ort der Seelen nicht getrennt von dieser Erde. Es handelt sich um eine Welt und die Mythen verbinden die sichtbare mit der unsichtbaren (spirituellen) Welt. Leben und Tod sind Teilaspekte des Ganzen, wenngleich das Reich der Toten außerhalb der Wahrnehmung liegt. Wo kommen die Jenseitsvorstellungen her? Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab es Menschen, die bewusstseinserweiternde Erlebnisse hatten, die als Jenseitsreisen gedeutet wurden. Eine großartige Schilderung einer Jenseitsreise stammt von Dante, der in seiner "Göttlichen Komödie", geleitet von Beatrice, neun Sphären des Himmels durchwandert, in dem die Seligen entsprechend ihrem irdischen Verdienst leben. In einem Punkt sind sich alle Mystiker einig: Das Erschaute kann nicht mit Worten beschrieben werden. So ist die Welt voller überlieferter bildhafter Beschreibungen und Gleichnisse über das Jenseits. Jede Vorstellung ist eine menschliche Vorstellung und daher unvollständig und unzulänglich. Mehr als eine Ahnung ist dem Menschen nicht möglich.

Was glauben die Menschen in aller Welt? Dietrich Steinwede und Dietmar Först beschreiben nicht nur Glaubensvorstellungen der bekannten Weltreligionen, sondern beziehen ethnische Religionen ein. So erfährt der Leser etwas über sibirische Schamanen und ihrer Reise in die Unterwelt, über das Totenlied der Pygmäen und über das dreigestufte Weltbild der Eweer in Südtogo.

Das Buch enthält eine umfassende Sammlung von Jenseitsmythen aus aller Welt, die in übersichtlichen kleinen Kapiteln dargestellt werden. Diese Vielfalt, komprimiert auf 160 Seiten, ermöglicht dem Leser einen leichten Einstieg in eine komplexe Thematik. "Die Jenseitsmythen der Menschheit" halte ich für eine lesenswerte Zusammenstellung über Glaubensvorstellungen, auch wenn nicht alle Hintergründe der Mythen beleuchtet werden können. Dem Leser steht es frei, einzelne Themen zu vertiefen.

Im letzten Kapitel des Buches "Leben danach - Eine Jenseitsparabel" wird die Situation, in der sich der Mensch befindet, mit der Situation eines Fetus im Mutterleib verglichen. Treffender kann die Lage des Menschen, versorgt aber auch verloren in einer Welt, die er nicht versteht, nicht beschrieben werden.

Dietrich Steinwede, geboren 1930, war als Dozent in Loccum und am Pädagogisch-Theologischen Institut Bonn-Bad Godesberg tätig. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu Themen der Geschichte und der Religion und einem großen Publikum bekannt.

Dietmar Först, geboren 1959, ist Gymnasiallehrer in Meinerzhagen. Sein besonderes Interesse gilt den ethnischen Religionen. Nicht zuletzt durch persönliche Kontakte hat er näheren Zugang zur religiösen Welt der Indianer Nordamerikas gefunden.

(Klemens Taplan; 02/2005)


Dietmar Först, Dietrich Steinwede (Hrsg.): "Die Jenseitsmythen der Menschheit"
Patmos, 2005. 160 Seiten
ISBN 3-491-72492-9.
ca. EUR 20,50.
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Noch ein Buchtipp:

Uwe Bork: "Paradies und Himmel. Eine Reise an die Schwellen des Jenseits"

Ein fundierter Überblick über die Jenseitsvorstellungen verschiedener Religionen und Kulturen.
Was kommt nach dem Tod? Und wo waren wir vor unserer Geburt? Kaum ein anderes Thema hat seit jeher die Menschen stärker bewegt als die Frage nach ihrer Herkunft und - noch mehr - nach dem Ziel ihrer Existenz. Uwe Bork stellt in diesem Buch die Jenseits- und Himmelsvorstellungen der wichtigsten Weltreligionen vor, doch vor allem erzählt er Geschichten. Von Hoffnung und Verzweiflung, von tiefem Vertrauen und ebenso tiefer Skepsis. Hauptziel und -thema ist dabei das Paradies, das ein Leben ohne alle Leiden verheißt. Ein bunter Bilderbogen über das nie geschaute Land. (Kreuz Verlag)
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