Michail Jelisarow: "Die Nägel"

Wohl und Wehe zweier Außenseiter mit besonderen Talenten


Rasant, fesselnd, geheimnisvoll, brutal, feinsinnig, ungezügelt - so ist die Geschichte um die schicksalhaft miteinander verbundenen Lebenswege zweier Findelkinder, Alexander Gloster und Serjosha Bachatow. Aufgrund ihrer körperlichen Auffälligkeiten (Gloster hat einen Buckel, Bachatow einen verbeulten Kopf) wachsen die beiden Knaben in einem Heim für geistig Minderbemittelte heran; wobei erwähnt werden muss, dass sowohl Gloster als auch Bachatow über bestechende logische Fähigkeiten (die sie, je nach Bedarf, verbergen oder ausschöpfen) verfügen und Gloster darüber hinaus mit außergewöhnlichen körperlichen Kräften "gesegnet" ist. 
Während Gloster den Spötteleien der Mitmenschen und den Erniedrigungen vorwiegend mit grausigem Gelächter begegnet, zieht sich der stille Bachatow ganz in seine eigene Welt zurück, und nur Gloster gelingt es, eine besondere Art von Nähe zu diesem Einzelgänger aufzubauen.
Mit "Die Nägel" sind Bachatows Fingernägel gemeint, die dieser einmal im Monat in einem qualvollen, blutigen, magischen Ritual abbeißt, womit er im Verlauf der Geschichte u. a. einen Höllenhund und einen unheilvollen Brunnen in Schach hält, Glosters Karriere als Pianist ermöglicht, Leichen verschwinden lässt und zukünftige Ereignisse nahen sieht. Allerdings muss dieses Ritual stets in völliger Ungestörtheit und gänzlich zu Ende vollzogen werden, andernfalls entsetzliche Ereignisse ihren Lauf nehmen ...

Bereits im Heim entdeckt Gloster sein Talent und seine Leidenschaft für die Musik ("Ich spürte die ganze Lebensschwere dieses auf den Rücken geschleuderten Bauchs, der nun mit einem wundersamen Nistling schwanger ging. Kaum in meinen Buckel eingedrungen, begann er die gehörten Töne zu intonieren"), konkret für das Klavierspiel, wobei sein Buckel eine besondere Funktion erfüllt. 

Nachdem die mittlerweile zu jungen Männern Herangewachsenen "in die Welt" (gegenständlich in das Moskau der postkommunistischen Zeit) entlassen werden, stolpern sie vorerst in kriminelle Karrieren, weil sich ein "guter Onkel" namens Ljoscha die enormen physischen Kräfte Glosters für Einbruchdiebstähle zunutze macht. Einige Zeit später platzt Gloster in eine Aufnahmsprüfung - in weiterer Folge wird ihm das Studium der Musik ermöglicht.
Als Gloster seinen zukünftigen Gönner, den ebenso finanzkräftigen wie geschäftstüchtigen und trinkfesten Tobolewski kennen lernt, geht es mit seiner Klaviervirtuosenlaufbahn steil bergauf. Alexander Gloster genießt die materiellen Vorzüge seiner neuen gesellschaftlichen Stellung, während der schweigsame Bachatow weiter als Handwerker arbeitet. Dennoch halten die Schicksalsgefährten intensiven Kontakt zueinander.

Im Rennen um des neureichen Tobolewskis ungeteilte Gunst zieht Gloster in einem Duell gegen den taubstummen Ringer Kaschtschejew, das "neueste Pferd im Stall", den Kürzeren. 
Weitere skurrile Figuren in diesem einzigartigen Spiel sind z. B. der Bürokrat alten Stils, der hintergründige Leiter des Heims "Girlande" Ignat Borissowitsch, zwei triebhafte Pfleger, Glosters erste Liebe: die reglose Nastenka und der gewitzte Installateurmeister Fjodor Iwanowitsch ("Eigentlich ging es darum, auch wenn wir das nicht gleich begriffen, beim Ausbessern kaputt zu machen").

Als sein "innerer Musikant" im Buckel während eines Wettbewerbs plötzlich verstummt, ahnt Gloster sofort, dass diese Stille mit Bachatow zusammenhängt ("In meinem entleerten Buckel heulte Friedhofswind"). Und tatsächlich soll Serjosha Bachatow im nämlichen Moment einen bestialischen Mord begangen haben, weshalb er in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden ist. Doch Gloster, der sich unverzüglich nach Hause begibt, kommt zu spät. Er findet heraus, dass Bachatow bei seinem Ritual gestört wurde und den Dämonen zum Opfer gefallen ist.
Alexander Gloster bleibt nur noch wenig Zeit, das Ritual zu Ende zu führen, denn bereits im Kinderheim sind die Insassen stets "paarweise" gestorben, und Gloster weiß, dass er Bachatow um nicht mehr als einige Tage überleben wird ("Ich wusste, der Tod ist nur aufgeschoben bis zu jenem Augenblick, in dem Bachatows Leichengift wie bei zwei verbundenen Gefäßen in meinen Körper hinüberfließt und das Herz zum Stillstand bringt"). 

 

Die Verästelung der Handlung geht weit über Gesellschaftskritik hinaus und birgt sowohl einiges an beachtlicher Doppelbödigkeit wie auch an Grenzverschiebungen. Gloster, der unaufgeregte Ich-Erzähler, dessen Aufstieg und Ende untrennbar mit dem Lebenslauf seines Freundes verknüpft sind, schildert einander überlappende Realitätsebenen und in ein nachgerade natürliches Racheschema eingebettete Morde in einer Sprache, die jeder Falschheit entbehrt und ohne Mitleidsmasche auskommt. Das Resultat sind treffliche Schilderungen der Verhältnisse in unterschiedlichen Gesellschaftsebenen und vieles mehr, aus einer wahrlich besonderen Perspektive. Ein bemerkenswerter Roman.

Michail Jelisarow wurde 1973 in Ivano-Frankowsk (Ukraine) geboren. Er studierte in Charkow Philologie und an der Musikhochschule Gesang und arbeitete u. a. als TV-Regisseur und Kameramann. Heute lebt und arbeitet er in Berlin.
"Die Nägel" ist sein erster Roman.

(K. Eckberg; 03/2003)


Michail Jelisarow: "Die Nägel"
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit.
Reclam Leipzig, 2003. 128 Seiten.
ISBN 3-379-00803-6.
ca. EUR 14,90.
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