John Irving: "Die vierte Hand"

Ohne Hand und Fuß
John Irvings enttäuschender neuer Roman "Die vierte Hand"


"Und wenn die Witwe des Spenders in bezug auf die Hand ein Besuchsrecht fordert?", fragte Janet Irving ihren Mann eines Abends nach einem TV-Bericht über die erste Handtransplantation in den USA. Als Antwort auf diese "inspirierende Frage" hätte man von John Irving einen turbulenten und unterhaltsamen Roman wie "Garp und wie er die Welt sah", "Das Hotel New Hampshire" oder "Owen Meany" erwartet. Mit einer Fülle von bizarren Ereignissen, einer Liebesgeschichte, detailfreudigen Sexszenen und gewohnt skurrilen Figuren und Pointen scheinen die Ingredienzien für ein weiteres mitreißendes Buch des Bestseller-Autors, der sich ohne falsche Bescheidenheit immer wieder offen für den Nobelpreis ins Gespräch bringt, zu stimmen.

Irvings Helden, dem New Yorker TV-Moderator Patrick Wallingford, wird während einer Reportage in Indien vor laufender Kamera von einem Raubtier die linke Hand abgebissen. Was eigentlich wenig verwunderlich sei, lässt uns der Autor wissen, gehört doch der passenderweise für einen zweitklassigen, auf die Ausschlachtung von Katastrophen und Unglücksfällen spezialisierten Nachrichtensender arbeitende Journalist zu jener "Sorte von penisgesteuertem Typ, dem es ähnlich sah, dass er mit der Hand einem Löwenkäfig zu nahe kam." Millionen von Fernsehzusehern bekommen die Szene wieder und wieder zu sehen, Wallingford wird zum weltweit bekannten einhändigen "Löwenmann". Seine Behinderung schadet der Popularität des Frauenschwarms weder beim Fernsehpublikum noch bei den Vertreterinnen des anderen Geschlechts, die sich weiterhin reihenweise um einen Platz in seinem Bett oder gar um ein Kind von ihm bemühen.

Auch die footballbegeisterte Kartenverkäuferin Doris Clausen, die die linke Hand ihres eben verstorbenen Mannes schon vor dessen plötzlichem Tod dem unwiderstehlichen "Löwenmann" zugedacht hat, will sich ihren bisher vergeblichen Kinderwunsch noch schnell vor der Transplantation vom wie immer willigen und bereiten Wallingford erfüllen lassen: "Lust, ein Baby zu machen?" Und wie das Schicksal - in John Irvings Büchern - so spielt, wird Mrs. Clausen prompt schwanger, der zuvor passiv von Affäre zu Affäre treibende weltgewandte Journalist verliebt sich unsterblich in die bodenständige Witwe seines Handspenders und versucht fürderhin, die zunächst nur an seinem Samen und dem verbliebenen Körperteil ihres Mannes interessierte Frau für sich zu gewinnen.

Wallingfords Entwicklung vom gedankenlosen Frauenhelden zum liebenden Vater und prospektiven Ehemann geht mit einem erwachenden beruflichen Gewissen einher, was John Irving breiten Anlass zu zwar mehr als berechtigter, leider aber zugleich auch ziemlich platter Medienkritik gibt. Doch nicht nur in dieser Hinsicht bleibt die Fabel vom Mann, der seine Hand verliert und seine Seele gewinnt, erschreckend banal. Aus vielversprechenden Ansätzen will sich diesmal einfach keine Geschichte entwickeln, die zu fesseln vermag, Irvings sonst überschäumende Fabulierlust wirkt seltsam blass.

Über weite Strecken liest sich "Die vierte Hand" wie die bloße Skizze zu einem Roman, dessen Ideen irritierend unausgegoren bleiben. Einerseits wäre ein Kapitel wie Wallingfords "Japanisches Zwischenspiel" einer Reise zu einer Konferenz über "Die Zukunft der Frau" auch ob seines - hoffentlich satirisch gemeinten - Antifeminismus besser unveröffentlicht geblieben, andererseits verschwinden herrlich verschrobene Charaktere wie der Hundekot-Lacrosse spielende Handchirurg Dr. Zajac, der mit einem essgestörten Sohn, einem neurotischen Hund namens Medea und einer liebestollen Haushälterin mit fabulösen Bauchmuskeln heillos überfordert ist, viel zu früh aus der Handlung.

Entwicklungsroman und Liebesgeschichte, leichtfüßige Farce und beißende Satire - "Die vierte Hand" will vieles vereinen und erreicht trotz mancher amüsanter Momente doch nur, dass sich der Leser nach zähem Kampf durch mehr als 400 Seiten heftig nach Irvings früheren Werken sehnt. Das Markenzeichen "John Irving" garantiert trotzdem einen Bestseller, den Nobelpreis allerdings hat sich der Autor mit seinem zehnten Roman sicherlich nicht verdient.

(sb)


John Irving: "Die vierte Hand"
gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2002.
448 Seiten. ISBN 3-257-06303-2.
ca. EUR 22,90.
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hier eine etwas freundlichere Besprechung des Romans