Arnaldur Indridason: "Gletschergrab"

Was macht ein Naziflugzeug mit amerikanischem Piloten im Ewigen Eis Islands?


Kurz vor Kriegsende stürzt eine deutsche Junkers JU 52 über dem größten europäischen Gletscher, dem Vatnajökull, ab. Das Flugzeug wird von Amerikanern gesteuert und ist mit amerikanischer Tarnung bemalt, transportiert aber auch einige hochrangige Wehrmachtsangehörige. Der Absturz wird von zwei Brüdern beobachtet, die am Rande des Gletschers leben und Hilfe holen. Sie helfen bei der Rettungsaktion, die aber keinen Erfolg zeitigt - die Maschine ist im Ewigen Eis versunken. Zwanzig Jahre später taucht die Maschine für einige Tage wieder auf, die sofort begonnene Suchaktion bleibt aber ebenso erfolglos.

Szenenwechsel. Im Entstehungsjahr des Romans, 1999, wird auf Satellitenfotos des isländischen Gletschers die Tante Ju gesichtet, und der amerikanische Militärgeheimdienst beginnt sofort mit einer groß angelegten Aktion um die Maschine außer Landes zu bringen. Dabei werden die Soldaten von zwei jungen Männern beobachtet, die bei einer Rettungsübung am Gletscher teilnehmen. Einer der beiden hat gerade noch die Möglichkeit seine Schwester Kristin anzurufen, als sie auch schon festgenommen werden. Während die beiden gefoltert und in eine Gletscherspalte geworfen werden, macht der Geheimdienst Jagd auf Kristin. Welches Geheimnis ist in der Frachtmaschine vergraben, das den Amerikanern so große Sorgen macht, dass sie Menschenleben dafür opfern und eine diplomatische Krise mit einem Verbündeten riskieren. Viele Erklärungen tauchen auf, doch welche davon ist richtig. Geht es um von Amerikanern gestohlenes Gold aus Konzentrationslagern, wie dem amerikanischen Verteidigungsminister versichert wird, oder um übergelaufene deutsche Wissenschafter, wie den isländischen Behörden erzählt wird? Handelt es sich etwa um den Prototyp einer von den Deutschen entwickelten Wasserstoffbombe, sind etwa gar todbringende Viren einer biologischen Waffe an Bord, oder geht doch um etwas vollkommen Anderes?

Arnaldur Indridason kannte man im deutschsprachigen Bereich bisher nur aufgrund seiner Kriminalromane rund um Kommissar Erlendur, von denen bisher "Nordermoor", "Todeshauch" und "Engelsstimme" übersetzt wurden. Nun präsentiert Lübbe erstmals einen Thriller Indridasons abseits der isländischen Polizei - und der Verlag tut sehr gut daran. Der Handlungsaufbau ist gewohnt gut, wenngleich Indridasons Polizeiromane hier eine schier unüberwindbare Latte vorgelegt haben, an die "Gletschergrab" nicht ganz heranreichen kann.

Wie von Indridason gewohnt, bekommt man ein wirklich gutes Werk vorgelegt, das sich vor allem durch seine sprachlichen und stilistischen Komponenten aus der Masse abhebt. Wenngleich die oben erwähnten Romane aus meiner Sicht sprachlich noch besser gefasst waren als "Gletschergrab", so kann man dennoch von einem absolut gelungenen Werk sprechen. Vor allem gilt es zu berücksichtigen, dass wir es mit einem Thriller zu tun haben, wo der Handlungsverlauf sehr stark von der Notwendigkeit, ständig Spannung zu halten, getrieben wird. Darunter leiden natürlich Sprache und Stil; nichtsdestotrotz ein sehr gut gelungener Kompromiss. Eine kleine Schwäche, die sich Indridason erlaubt, ist in der Charakterisierung der Personen zu sehen, die nicht an die von ihm gewohnte Qualität heranreichen kann. Diese Schwäche kann natürlich dem Genre Spannungsroman angelastet werden, weshalb man darüber leicht hinwegsehen kann, denn schließlich sucht man hier Unterhaltung im Nervenkitzel und im Lösen der Rätsel.
Zuguterletzt jedoch muss noch ein klein wenig Kritik sein, denn der Schluss des Werkes wirkt irgendwie kühl und lustlos. Das mag daran liegen, dass alle Rätsel geklärt sind und die Spannung daher wegfällt, ich habe aber eher den Eindruck, dass Indridason beim Tippen der letzten beiden Kapitel einfach die Lust am Schreiben verlassen hat - oder dass diese Kapitel später geschrieben oder massiv geändert wurden; ein Stilbruch ist unverkennbar.

Zusammenfassend kann man das Buch aber uneingeschränkt empfehlen. Indridason gehört zu meinen Lieblingsschriftstellern und das wird er auch bleiben. Er muss keinen Vergleich mit bekannten Größen des Thrillers scheuen und kann in einem Atemzug mit Dan Brown, Jörg Kastner und Ken Follett genannt werden.

(Reinhold Stansich; 02/2005)


Arnaldur Indridason: "Gletschergrab"
(Originaltitel "Napóleonsskjölin")
Übersetzt von Coletta Bürling, Kerstin Bürling.
Lübbe, 2005. 364 Seiten.
ISBN 3-404-15262-X.
ca. EUR 8,20. Buch bei Libri.de bestellen
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Arnaldur Indridason, Jahrgang 1961, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und gehört seit einigen Jahren zu den erfolgreichsten isländischen Kriminalschriftstellern. Er war als Journalist und Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung "Morgunbladid" tätig. Sein Roman "Nordermoor" wurde zum besten Kriminalroman Skandinaviens 2002 gewählt.

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