Hwang Sok-yong: "Die Geschichte des Herrn Han"

Chronik einer Entwurzelung


"Der Krieg war zu Ende. Das heißt, in Wahrheit war es eher so wie bei einem Fluss, der plötzlich an der Oberfläche gefriert. Die politischen Querelen ebenso wie die Hoffnungen der Menschen überwinterten einfach unter dem Eis und warteten auf eine neue Jahreszeit. Darüber bildeten sich Tag für Tag eine immer dichter werdende Schicht des Vergessens." (Seite 119)

Als Han Yongdok, ein mürrischer, unsympathischer und verwahrloster alter Mann, in seinem Untermietzimmer im April 1968 in einer südkoreanischen Provinzstadt stirbt, interessieren sich die Nachbarn zunächst mehr dafür, wer das freigewordene Zimmer in Zukunft bewohnen darf. Erst nachdem sie mit den wenigen erreichbaren Verwandten und Bekannten von Han Yongdok Kontakt aufnehmen und Erinnerungen austauschen, entsteht im Rückblick - während der Totenwache - die Lebensgeschichte des nordkoreanischen Arztes.

Der Krieg zwischen Nord- und Südkorea und die hermetische Trennung des Landes macht aus dem angesehenen, aber unangepasst sturen Universitätsprofessor für Gynäkologie einen Flüchtling, der seine Familie im Norden zurücklassen muss, in Abhängigkeit von zwielichtigen Hochstaplern lebt und schließlich vom Geheimdienst des Südens als nordkoreanischer Spitzel denunziert und inhaftiert wird. Auch nach der Freilassung ist er weiterhin gefangen im politischen Schicksal seines Landes und kann weder privat noch beruflich wieder Fuß fassen. Er stirbt völlig vereinsamt.

"Die Geschichte des Herrn Han", von Hwang Sok-yong 1970 zuerst als Fortsetzungsroman veröffentlicht, wurde zum Schlüsselwerk der neueren koreanischen Literatur, da es die Trennung des Landes und von Millionen von Familien nicht als Propaganda oder Heldengeschichte beschreibt, sondern sich - autobiografisch beeinflusst - auf das tragische Schicksal einer Einzelperson konzentriert. Indem der Autor mit seinem Buch einen persönlichen und keinen politischen Standpunkt einnimmt, kann es auch außerhalb des geteilten Landes Leser ohne politische und historische Kenntnisse erreichen, weil sie durch die ereignisreiche Handlung berührt und gerührt werden.

Anders als das üppige Lebensbild im Roman "Der ferne Garten", wo in ähnlicher Schreibtechnik die Biografie einer Künstlerin nach ihrem Tod rekonstruiert wird, ist "Die Geschichte des Herrn Han" ein sehr schlankes Buch, das nicht das ganze Leben des Protagonisten wiedergibt, sondern nur das Wesentliche, das ihn als Person nachhaltig beeinflusste und ihn schließlich zerbrechen ließ. Diese Szenen, die oft Jahre auseinander liegen, beschreibt Hwang Sok-yong in sehr knapper, sachlicher Sprache und überlässt es dem Leser, sich ein endgültiges Urteil über Han Yongdok und sein Land zu machen.

Ein der französischen Ausgabe entnommenes Nachwort des Übersetzerteams führt sehr informativ in den Roman sowie in das gesamte Werk Hwang Sok-yongs und seine Bedeutung für Korea ein.

(Wolfgang Moser; 09/2005)


Hwang Sok-yong: "Die Geschichte des Herrn Han"
Aus dem Koreanischen von Kang Seung-hee, Oh Dong-sik und Torsten Zaiak.
dtv, 2005. 140 Seiten.
ISBN 3-423-24488-7.
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Leseprobe:

Das alte Haus, das während der Kolonialzeit einem Japaner gehört hatte, teilten sich vier Familien. Hätte es nur einer einzigen gehört, es wäre sicher eines der größten Einfamilienhäuser in der kleinen Provinzstadt gewesen. Doch im Laufe der Zeit waren die Wohnungen separat weiterverkauft worden. Seit über zwanzig Jahren lebte man hier nun in ärmlichen Verhältnissen, die denen eines Flüchtlingslagers glichen.

Die Familie des Beamten Min bewohnte das Erdgeschoss. Im Obergeschoss lebten die Familie des Chauffeurs Byon und die verwitwete Diakonin einer Kirche. Beide nutzten jeweils ein Zimmer. Darüber hinaus teilten sie sich ein gemeinsames Wohnzimmer. Das schattige, nach Norden gelegene Eckzimmer wurde von einem alleinstehenden alten Mann bewohnt. Während die Familien und die Diakonin schon lange in dem Haus lebten, war der alte Mann erst vor drei Jahren eingezogen, im April 1968. Die anderen Bewohner konnten sich noch gut an seine eigenartige Erscheinung erinnern, als er mit nichts als einem zerbeulten Koffer in das Haus gezogen war. Seine vollständig ergrauten Haare hatte er sauber nach hinten gekämmt; er trug einen alten abgewetzten Anzug. Sein Blick war leer, und sein Gesicht ließ die Spuren einer Hautkrankheit erkennen. Vor allem der Kontrast zwischen der großen roten Nase und einer bohnenförmigen Warze über dem Mund verlieh ihm ein seltsames Aussehen. Sein leerer Blick und die heruntergezogenen Mundwinkel ließen auf einen schwermütigen Charakter schließen. Was den Hausrat oder Möbel anging, so hatte er überhaupt nichts mitgebracht. Byon borgte ihm zunächst eine Bettdecke und erhielt dafür später Geld von ihm. Das Geschirr kaufte sich der alte Mann nach und nach auf dem Markt. Sein merkwürdiges Benehmen war für seine Nachbarn nicht gerade vertrauenerweckend. Hätten sie vorher gewusst, dass der frühere Besitzer des Zimmers, ein Eisenbahnangestellter, es einer derartigen Person überlassen würde, sie hätten ihn unter irgendeinem Vorwand daran gehindert und es lieber anderweitig vermittelt. Sie befürchteten, dass die ohnehin nicht leichte Situation im Haus noch komplizierter werden und sich die Atmosphäre verschlechtern könnte. Außerdem war er ziemlich abweisend, erwiderte keinen Gruß und ging auch nicht zu den Büros des Häusermaklers oder des öffentlichen Schreibers, wo sich die Alten aus der Nachbarschaft gerne trafen. Allerdings hätte man ihn dort wohl auch nicht gern gesehen. Da er wie viele alte Menschen unter Schlaflosigkeit litt, lief er mitten in der Nacht in den Gassen herum. Die Nachbarn sagten, ihnen würde unheimlich, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Er selbst ging ihnen dann mit erschrockenem Blick aus dem Weg. Wenn ihn jemand ansprechen wollte, starrte er den Betreffenden misstrauisch an und lief, etwas vor sich hinmurmelnd, an ihm vorbei. Anfangs wollten nicht einmal seine Mitbewohner etwas mit ihm zu tun haben. Gleichwohl sagte eine der Frauen eines Tages, er sei ein ruhiger und gutmütiger Mensch, nachdem sie beobachtet hatte, wie er ein Kind, das auf der Straße hingefallen war und weinte, in die Arme genommen und zu seiner Mutter gebracht hatte.

Mit der Zeit jedoch bekamen die Hausbewohner Mitleid mit dem Alten und sagten sich, dass er nur einen etwas sonderbaren Charakter habe. Schließlich sei jeder Mensch anders, und man wüsste ja auch nicht, was er in seinem Leben womöglich durchgemacht habe. Bei seinem Einzug musste er wohl etwas Geld besessen haben. Er hatte es wahrscheinlich einem Wucherer überlassen und von den Zinsen gelebt. Obwohl man nichts Genaues wusste, kam später das Gerücht auf, dass er betrogen worden war. Denn der Alte, der früher nicht hatte arbeiten müssen, kam nun gerade so über die Runden, indem er sich seinen Tageslohn durch kleine Arbeiten verdiente und ab und zu von der Gemeinde etwas Reis erhielt, den man an die Notleidenden verteilte. Schließlich fand er eine Anstellung als Leichenwäscher. Vormittags blieb er zu Hause, gegen Mittag ging er dann zum Beerdigungsinstitut, das sich an der Kreuzung direkt neben der Apotheke befand, um dort zu Mittag zu essen. Als man jemanden suchte, um den kürzlich verstorbenen Leichenwäscher zu ersetzen, stellte er sich vor und wurde auch sofort angenommen, vor allem natürlich, weil man ihm etwas Gutes tun wollte. Ohne jeglichen Widerwillen machte sich der Alte an die Arbeit. Auch an den Tagen, an denen er nichts zu tun hatte, saß er nun nachmittags stets vor dem Institut und starrte mit leeren Augen auf die Vorübergehenden. Abends kam er dann sichtlich betrunken nach Hause. Und da er immer häufiger sowohl Mittag- als auch Abendessen ausließ, munkelten die Mitbewohner schließlich, dass er es nicht mehr lange machen würde.

Eines Morgens, als sich der Beamte Min eilig darauf vorbereitete, zur Arbeit zu gehen, sah er zufällig aus dem Fenster und verzog unwillig das Gesicht. Zu dieser frühen Stunde hockte der Alte am Brunnen und wusch seine Unterwäsche. Familie Min, die das gesamte Erdgeschoss bewohnte und der außerdem ein Teil des Grundstücks gehörte, verfügte über mehr Rechte und deshalb auch über mehr Pflichten als die anderen, weshalb sie sich ein wenig als der eigentliche Besitzer betrachtete. Wenn Nachbarn oder Bekannte jetzt zufällig sahen, dass der Alte seine Wäsche selbst wusch, dann würden sie nicht nur seiner Frau, sondern auch ihm vorwerfen, herzlos zu sein und keinen Respekt vor dem Alter zu haben. Da er den Alten nicht mochte, ärgerte es ihn um so mehr, ihn schon so am früh am Morgen erblicken zu müssen. Wenn der Alte mit krummem Rücken die Wäsche aus der Waschschüssel zog, keuchte er. Gelegentlich machte er eine Pause, rieb sich den Rücken und sah zum Himmel auf. Verärgert murmelte Herr Min: "Das kann man ja wirklich nicht mehr mit ansehen."

Seine Frau, die in der Küche Geschirr abwusch, öffnete die Brettertür, blickte hinaus und sagte: "Alt zu werden macht keinen Spaß. Da siehst du, was es bedeutet, allein zu sein. Du kannst froh sein, dass ich bei dir und dazu bei guter Gesundheit bin."

Aus Angst, seine Frau würde sonst wie üblich weiternörgeln, schwieg Herr Min zunächst. Nach einer Weile jedoch, da er den Anblick, der sich ihm bot, nicht mehr länger ertragen konnte, sagte er: "Geh bitte hinaus und hilf ihm. Wenn ihn jemand so sieht, wird man sich über uns das Maul zerreißen."

"Da sieht man mal wieder, dass du überhaupt nicht auf dem laufenden bist. Er hat einen ziemlich schlechten Ruf in der Gegend. Immer wenn ich ihm helfen wollte, schien er nicht gerade erfreut darüber. Eine Buddha-Statue, die auf kein Gebet reagiert, wird zerstört. Warum sollten wir also ausgerechnet mit ihm so mildtätig umgehen?"

Herr Min wurde lauter: "Das wird man uns wohl kaum übelnehmen. Ich jedenfalls muss jetzt ins Büro. Willst du mir etwa diesen Anblick zumuten, wenn ich über den Hof gehe? Genauso gut könntest du mir eine Ohrfeige verpassen."

Verärgert lief seine Frau zum Brunnen und riss dem Alten die Wäsche aus den Händen. (...)

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