Thomas Hrovat: "Eroberung des Unsichtbaren"

Das extreme Leben eines Kletterers


Mit 14 Jahren ein Siegertyp, mit 30 ein Wrack ...

"Ehrgeiz veranlasst die Menschen oft,
die niedrigsten Dienste zu verrichten:
so wird ihr Klettern zum Kriechen."
(Jonathan Swift; 1667-1745)

Thomas Hrovat, 1960 in Graz geboren, war ab dem Jahr 1974 als Sport- bzw. Extremkletterer unterwegs und veröffentlichte 1987 den Bildband "Sportklettern. Climbing". 1990 beendete er sein Philosophie- und Psychologiestudium. Derzeit lebt er abwechselnd in Graz und Wien und ist als Unternehmensberater tätig. Die Kreidesäckchen hat er inzwischen an den Nagel gehängt. Warum? Genau darüber gibt er in diesem Buch Auskunft.

Gerade auch in Zeiten des Gelingens, des Erfolgs oder einer ganz auf Zukunft gerichteten Aktivität meldet sich die mitunter zur Gewissheit werdende Sorge, dass der Tod auf jeder Strecke des Lebensweges eintreten kann. Ein Sportkletterer, dessen zentrales Bestreben es jahrelang war, mit nicht mehr als "soundsoviel Meter Luft unterm Hintern" an irgendeinem möglichst anspruchsvollen Felsen zu hängen, verspürt plötzlich die eisige Hand der Todesangst in alltäglichen Situationen und beginnt unter Panikattacken zu leiden, die ihn von seinem bisherigen Leben vollkommen abzuschneiden drohen.

Er fühlt sich "wie von einer dünnen, unsichtbaren Wachsschicht überzogen", und sein manisches Sicherheitsbedürfnis treibt skurrile Blüten. So weiß er beispielsweise penibel Bescheid über die Adressen und Ordinationszeiten sämtlicher Ärzte in der Umgebung seines Wohnsitzes und ist ständig darauf gefasst, in die Notaufnahme eines Spitals gebracht zu werden.
Wie er selbst schreibt, war er vom eigenen Ehrgeiz besessen und süchtig nach immer größeren Leistungen. Dass mehr als nur einer seiner Kameraden sein Leben in den Felsen lassen musste, war ihm niemals Warnung; er hielt sich für nahezu unverwundbar.

Es gibt Kapitel, in denen Thomas Hrovat auf seine überdurchschnittliche Sportklettererlaufbahn mit all ihren Höhen und Tiefen zurückblickt, und solche, die ausschließlich seiner psychischen Erkrankung samt zugehöriger Therapie gewidmet sind. Er beschreibt Symptome, die in der Literatur am ehesten unter Neurosen - genauer Herzphobie mit hypochondrischen Zügen sowie Agoraphobie und Claustrophobie - Erwähnung finden: Ängstlich geschärfte Wahrnehmungsbereitschaft, Einsatz frühzeitiger Vorsichtsmaßregeln (z.B. Festhalten der Distanzen zu den nächstliegenden Arztpraxen), in anfallsartigen Schüben auftretende Panikattacken, Angst, in Zügen oder Straßenbahnen eingeschlossen zu sein. Wie bei Freud nachzulesen, handelt es sich hierbei nicht um Realängste, sondern ist die Gefahr eine innerliche anstatt einer äußeren, die nicht bewusst erkannt wird: "Bei den Phobien kann man sehr deutlich sehen, wie diese innerliche Gefahr in eine äußerliche umgesetzt, also neurotische Angst in scheinbare Realangst umgewandelt wird."

So ist "Eroberung des Unsichtbaren" deutlich mehr als eine Auflistung von Hrovats Erst-, Jüngst- und Schnellsterkletterungen. Mit beeindruckender Ehrlichkeit, in gewisser Hinsicht schonungslos, hat er sich eine Art Fallstudie von der Seele geschrieben.

Für (Freizeit-)Psychiater sind vermutlich jene Passagen besonders spannend, die Hrovats Hypochondrie und Zwangsneurosen thematisieren: Zustände abnormer Leibbezogenheit, die aus der ständigen Sorge um das körperliche Wohlbefinden zu einem umfassenden System von Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen ausgeweitet werden und ein sogenanntes "normales Leben" in letzter Konsequenz regelrecht verunmöglichen. Die Angst, sich eine jeder Diagnose entziehende tödliche Krankheit zugezogen zu haben, die zwanghafte Pedanterie im Umgang mit dem als Feind wahrgenommenen eigenen Körper: "Keiner muss mir sagen, dass ich vollkommen gesund bin, denn dass ich krank bin, weiß ich selbst. Ohne Befund - das bedeutet für mich nicht, dass ich gesund bin, sondern nur, dass sie noch nichts gefunden haben. Darum gehe ich von einem Arzt zum nächsten, in der Hoffnung, dass er endlich findet, was alle anderen übersehen haben."

Freunde felsiger Steilhänge kommen in den übrigen Kapiteln auf ihre Kosten, wo Bergsucht und Bergbesessenheit, Touren und der Nervenkitzel in Grenzsituationen beschrieben werden.

Der Buchtitel wandelt übrigens einen Ausspruch von Edmund Hillary, dem Erstbesteiger des Mount Everest, ab, der das Bergsteigen als eine "Eroberung des Sinnlosen" definiert hat.

(S. Gabriel)


Thomas Hrovat: "Eroberung des Unsichtbaren.
Das extreme Leben eines Kletterers"

Carl Ueberreuter, 2001.
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