Günther Steinbach: "Europas unruhiges Herz"

Die 10 wichtigsten Stationen der deutschen Geschichte


Der historische Bogen spannte sich gewaltig, bis es hinsichtlich jenes Territoriums, das die Römer einst Germanien nannten, zur heutigen Bezeichnung "Deutschland" kam und "das unruhige Herz", wie es Günther Steinbach nennt, endlich in Europa angekommen ist. Angekommen nach vielen Um- und Irrwegen.

Gleich eingangs formuliert Steinbach eine entschiedene Absage an den Germanenkult, wie er sich bei Herder und Hitler findet, indem er seine Auffassung darlegt, dass es sich bei dem Begriff vom Deutschen in der Tat nicht einmal um einen positivistischen Nationalbegriff handelt. Die Spezifizierung dieses Landes als DEUTSCH-LAND meine nämlich nicht die Bezeichnung einer fest umrissenen Nation, die sich von gemeinsamen Vorfahren her leitet, sondern ist so etwas wie der größte gemeinsame Nenner einer Negation. Sie umfasst alle Dialekte und Länder, die nicht als Fortentwicklung aus der lateinischen Sprache abgeleitet werden können. Dieses so genannte "Deutsche Reich" wurde erstmals unter Karl dem Großen in seinen Grenzen abgesteckt, gewissermaßen zusammengeraubt, was Steinbach in keiner Hinsicht wertet, sondern einfach nur beschreibt. Und diese frühe Reichsbildung sei auch weder als Beginn von deutscher Eigenstaatlichkeit, noch als Vorgeschichte dazu zu verstehen. Steinbach zelebriert einfach nur Geschichte. Dieses frühe deutsche Reich (insofern man in diesem Zusammenhang überhaupt schon von einem deutschen Reich sprechen kann) zerfiel sodann infolge chaotischer Zeitumstände, der dünnen Besiedelung und der miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse.

Durch Überlassung von Grund, für Natural- und Kriegsdienstleistung, an die Adeligen bildete sich auf dem Boden des späteren Deutschlands in der Folge das Lehenwesen heraus, womit der allemal schwache König, in seinem Bedürfnis nach getreuen Vasallen, sich auf die Dauer gesehen unerbittliche Widerstreiter schuf. Ein historisches Elend, welches Steinbach in nobler Zurückhaltung nicht näher kommentiert. Ihm geht es einzig um Faktizitäten, die sich in etwa dann auch im Machtverfall des deutschen Königs bzw. Kaisers durch das System der Königswahl manifestieren: Um einen Nachfolger aus der Königsfamilie sicher zu stellen, vergab der König immer mehr Rechte und Privilegien an die Landesherrn, insbesondere das Recht auf Erblichkeit von Lehen. Um gerade dieses Recht, zumal es die Verfügbarkeit königlicher Macht gefährlich erodierte, dann wieder auszuschalten, wurden vermehrt Bischöfe durch den König als Lehenträger eingesetzt. Doch auch diese Methode führte letztlich nur zu Konflikten mit der kirchlichen Hierarchie, zualleroberst dem Papst, der wohl religiöser Führer der Christenheit war und dahergehend für sich das so gesehen gottgewollte Recht auf die Verleihung der Kaiserwürde beanspruchte, aber allgemein betrachtet in erster Linie als sehr weltlicher Machtpolitiker agierte und hierbei in seinem ganzen Tun und Lassen den bestimmenden adeligen Familien in Rom und Italien verpflichtet war. Erst Kaiser Otto dem Großen gelang es, die deutschen Adelsherrn stärker an seinen Königshof zu binden, indem er ihnen Funktionen an der Festtafel des Königs mit Amt und Würden zuteilte. Aber es bedurfte noch weiterer 400 Jahre, bis unter dem Luxemburger Karl IV., mit Kaiserresidenz in Prag, das erste deutsche Grundgesetz in der "Goldenen Bulle" verwirklicht werden konnte. (Einsetzung der Kurfürsten.) Dadurch wurde die Praxis einer ständigen Aufteilung des Reiches an Abkömmlinge des jeweiligen Königs abgestellt und die Mitwirkung des Papstes an der Königswahl ausgeschlossen. Die Kaiserkrönung wurde gleichzeitig zu einem rein römischen Festakt herabgewürdigt.

Markante Veränderungen in der Entwicklung der Völker sind nicht alltäglich, sondern es handelt sich hierbei um Prozesse, die sich über lange Zeiträume verteilt entwickeln. Günther Steinbach bringt dies gekonnt zur Darstellung, wenn er den Machtkampf zwischen Kaiser und Papst nachzeichnet, welcher sich im Herrschaftsanspruch des Papstes entsprechend der Zweischwertertheorie manifestierte (wonach in Vermittlung göttlicher Machtverleihung das geistliche Schwert über das weltliche dominiere). Dieser Kampf wurde schlussendlich zum Nachteil des Papstes entschieden, wie überhaupt das jeglichen Reformwillen verweigernde Papsttum auf seine größte Krise und eine zweite Kirchenspaltung zusteuerte. Es folgt die Zeit der Reformation, welche Günther Steinbach ausführlich bringt, hingegen die Gegenreformation nur partiell zur Sprache gebracht wird, was seinen Grund wohl darin hat, dass diese ihren Schwerpunkt im unmittelbaren Herrschaftsbereich der Habsburgerkaiser, also in Österreich vor allem hatte, und Steinbach Österreich aber eher nicht als unzweifelhaft integrierten Bestandteil deutscher Geschichte betrachtet, sondern - um es pointiert zu sagen - mehr als Sitz eines ohnmächtigen deutschen Kaisers, der außer seiner hohlen Würde nichts vorzuweisen hatte und zusehends auf repräsentative Funktionen beschränkt war.

Soviel zum Elend eines eher kraftlos anmutenden römischdeutschen Kaisertums, dem der Autor zumindest die Gnade erweist, sich im Unterschied zu anderen Historikern jeglichen Hohns und Spotts ob des unaufhörlichen Missgeschicks zu enthalten. In weiterer Folge beschreibt Günther Steinbach den weitaus glorreicheren, weil von begabten Herrschern geführten Aufstieg der ursprünglich nicht nur unbedeutenden, sondern geradezu armseligen Mark Brandenburg zur Großmacht Preußen, deren militaristischer Charakter letztlich keine unerhebliche Mitschuld an den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zukommt. Dass Preußen die tolldreisten Kriegsgelüste seines großen Königs, Friedrich II., dank glücklicher Fügung als souveräner Staat überstand, leistete letztlich einer Entwicklung Vorschub, die weg vom Prinzip friedlicher Koexistenz und hin zu einer Politik der Waffengewalt führte. Den Aufstieg Preußens könnte man nun durchaus als eine Entwicklung zur Katastrophe skizzieren und spekulativ die Frage stellen, was gewesen wäre, wäre Friedrich II. dazumal mit seinem Reich untergegangen. Welche andere Wendung hätte die deutsche und damit verbunden die europäische Geschichte genommen? Diese eigentlich spielerische Frage stellt Steinbach sehr wohl, und legt somit die Spur einer unglücklichen Kausalität von Friedrich bis Hitler. Wäre Friedrich gescheitert, Deutschland hätte sich anders organisieren müssen, meint Steinbach, wie denn auch der deutsche Militarismus schon frühzeitig eine massive Niederlage erfahren hätte. Es kam anders, und die Lust an der Spekulation revidiert Geschichte nicht. Nach dem Günther Steinbach im ersten Teil des Buches also gewissermaßen den Prozess einer Reichsbildung mit anschließendem Verfall beschreibt, kommt im zweiten Teil der unheilsame Aufstieg Preußens zur Darstellung. Diesen beschreibt er in nicht wertender Manier, sondern als historische Tatsache, die ihre Ursache im letztlich zusehenden Erstarken Deutschlands wie in der fatalen Erfolgsgeschichte Preußens hatte. Militarismus wurde mehr und mehr zum scheinbaren Erfolgsrezept deutscher Geschichte stilisiert.

Günther Steinbach beschreibt die deutsche Geschichte im Grunde als einen Zustand innerer Unruhe, die in nervöse Aggression umschlagend im 19. und 20. Jahrhundert in kriegerischen Eruptionen eskalierte und zuletzt in eine massive Demütigung des deutschen Volkes mündete. Erst nach der Wiedervereinigung des nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei feindliche Brüder gespaltenen Deutschlands fand das "unruhige Herz" nach Meinung Steinbachs, eingebettet in die Kultur eines supranationalen Europas, zur Ruhe. Womit die Zuversicht begründet sei, dass das mächtige Land in der Mitte Europas, welches nun einmal Deutschland ist, nie wieder Anlass für Furcht und nie wieder Ursache und Schauplatz für Krieg und Zerstörung sein werde.

(Dr. Hans Schulz; 05/2004)


Günther Steinbach: "Europas unruhiges Herz"
Ueberreuter, 2004. 224 Seiten.
ISBN 3-8000-3935-4.
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