Mario Leis, Patrick Sourek (Hrsg.): "Mythos Herkules"

Von Pindar bis Peter Weiß


Herkules - eine Lichtgestalt mit Schattenwurf

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Beim "Mythos Herkules" handelt es sich keineswegs um ein wissenschaftliches Werk über griechische Mythologie oder antike Sagengestalten. Wir haben es hier vielmehr mit einem Lesebuch zu tun, unterhaltsam und bildend, das die Gestalt des Herkules und den damit verbundenen Mythos vom Blickwinkel der Literatur beziehungsweise der Literaten aus beleuchtet. Schriftsteller von der Antike bis zur Moderne haben sich mit dem Thema befasst, sie alle im beschränkten Rahmen eines Auswahlbandes zu Wort kommen zu lassen, wäre ein schier aussichtsloses Unterfangen. Die in diesem neuesten Band der Mythos-Reihe des Reclam Verlages getroffene Auswahl bietet aber einen guten Querschnitt, in dem viele Facetten der Herkules-Rezeption aufleuchten.

Wohl kaum eine andere Mythengestalt hat derart befruchtend auf die Fantasie der Menschen eingewirkt wie Herkules, und sie hat bis heute noch nichts von dieser Wirkung eingebüßt. Ob Superman, Old Shatterhand, Tarzan oder James Bond, sie alle sind Nachfahren oder Epigonen des Herkules. Er ist der Prototyp des unbezwingbaren Helden. Da nimmt es kein Wunder, wenn unterschiedliche weltanschauliche oder politische Strömungen versuchten, sich ihr eigenes Herkulesbild zurecht zu modeln, einige unterspülten sogar Autorität und Heldenstatus des Herkules mit verätzender Respektlosigkeit, wie zum Beispiel die Autoren aus den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, von deren Texten sich auch einige im vorliegenden Band finden.

Aber nicht erst den Autoren der Moderne war es vorbehalten, die Schwächen und Schattenseiten des Herkules bloßzulegen. Auch ihre Kollegen aus der Antike lieferten keineswegs immer eine kritiklose, verklärende Apotheose des Herkulesbildes, schon damals trat die Ambivalenz des Helden und Gottmenschen immer wieder unterschwellig und oft auch vordergründig zu Tage, worüber dieser Band in beredter Weise Aufschluss gibt.

Es ist frappierend zu sehen, dass sowohl die Herrschenden als auch die Unterdrückten und Versklavten aller Zeiten den Herkules als einen der Ihren betrachteten, dass sie sich mit seinen Wesenszügen und Taten identifizieren konnten. Aber als was ist er denn nun wirklich anzusehen, dieser Gewaltigste unter den griechischen Heroen? Als Freund und Befreier der Unterdrückten, als eine Art Robin Hood der Antike also, oder war er mehr das zweifelhafte Vorbild für die Prasser und Schlemmer, war er vielleicht der Ur-Macho, oder wurde er gar zum Inspirator des Kolonialismus, zum blindwütigen Kriegstreiber, wie es Peter Weiss in seiner "Ästhetik des Widerstandes" andeutet?

Die Antwort mag der Leser sich selbst geben. Hilfen dazu findet er zur Genüge in diesem Band. Die Textauswahl beinhaltet unterschiedlichste Stilrichtungen, Sichtweisen und Formen. Da die Geschichte, beziehungsweise das Leben und Sterben des Herkules, einen idealen dramatischen Stoff darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Autoren sich der dramatischen Form verschrieben haben. Doch auch Lyrik und Prosatexte durften natürlich nicht fehlen, und darunter finden sich für mich ein paar echte Entdeckungen, wahre Perlen von gediegenem Glanz, wie beispielsweise Ferdinand Kürnbergers "Herkules und Alpheus", wo der Autor auf originelle Art und Weise das Ausmisten des Augiasstalles behandelt. Oder das beeindruckende "Mythus vom Dampf", ein Gedicht von apokalyptischer Visionskraft, 1856 verfasst von Emanuel Geibel, der damals schon die Ambivalenz des technischen Fortschritts klar erkannt hatte. Auch Kuriositäten wird man finden, ich denke da an den Text von Sebastian Brant oder an die höchst merkwürdige "Fünfft Aufgab der Arithmetisch-Poetisch-und Historisch-Erquick-Stund" des Johann Hemeling, ein kurioses literarisches Rätsel.

Die einzelnen Beiträge sind nicht sehr umfangreich, sie gehen selten über fünf bis zehn Seiten hinaus, einige umfassen weniger als eine Seite, was dem Band den Charakter eines Lesebuches verleiht.

Quellennachweise, Literaturempfehlungen und ein informatives ausführliches Nachwort von ... (ja von wem denn eigentlich? Den Namen dieses Autors hat man uns leider unterschlagen), runden diesen gelungenen Band aus Reclams Mythen-Reihe ab. Zusätzliche biografische Angaben zumindest zu einigen weniger bekannten Autoren wären vielleicht noch wünschenswert gewesen.

(Werner Fletcher; 10/2005)


Mario Leis, Patrick Sourek (Hrsg.): "Mythos Herkules"
Reclam Leipzig, 2005. 184 Seiten.
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Weitere Titel dieser Reihe (Auswahl):

"Mythos Ödipus. Texte von Homer bis Pasolini"

Der antike Mythos von Vatermord und Inzest.
Der Mythos um Ödipus, der das Orakel erfüllt, indem er unwissend seinen Vater tötet und seine Mutter ehelicht, geht bis auf das 2. Jahrtausend v. Chr. zurück.
Im 17. Band der Mythos-Reihe wird die breite europäische Rezeption der Frage um Schuld oder Unschuld repräsentativ dargestellt. So wird die fundamentale Wirkung, die der Mythos in seiner Bedeutungsvielfalt auf unsere Kultur hat, erkennbar.
Die ausgewählten Texte reichen von Homer und Sophokles über Dante Aligheri, Voltaire, Goethe und Nietzsche zu Freud, Pasolini und Hélène Cixous.
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"Mythos Odysseus. Texte von Homer bis Günter Kunert"

Zu den wichtigsten Figuren der griechischen Mythologie zählt Odysseus, der Abenteurer der homerischen Odyssee. Als listenreicher Weiser oder skrupelloser Machtpolitiker ist er seit Jahrhunderten Muse und Motiv für Literaten aus ganz Europa. Seine Popularität verdankt er nicht zuletzt seinem pioniergleichen Kampf gegen das Schicksal und die göttliche Bestimmung. Besonders das 20. Jahrhundert, dessen Schlagwörter Individualität und Selbstverwirklichung heißen, kürt in Odysseus einen antiken und doch höchst modernen Helden: Der Irrfahrer wird zum Inbegriff des entwurzelten, orientierungslosen Menschen, seine Odyssee ein Sinnbild für die Reise ins menschliche Innere.
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"Mythos Sisyphos"

Zeus erlegte Sisyphos als Strafe auf, einen riesigen Stein den Berg hinaufzuwälzen, der ihm jedes Mal, wenn er den Gipfel fast erreicht hat, entgleitet und zurückrollt. Bis in dieses Jahrhundert hinein erscheint Sisyphos als ewig leidender Büßer. Erst Camus stellt den Mythos auf den Kopf: Das Leben braucht keinen Sinn, aber es muss in seiner Absurdität erkannt und akzeptiert werden. 100 Texte von Homer bis Günter Kunert zeichnen die Deutung des Mythos nach.
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"Mythos Aphrodite"

Aphrodite, die Göttin der Liebe, ist seit mehr als 2500 Jahren in der Weltkultur anwesend. Hesiod beschreibt als erster ihre Geburt: "Das Geschlecht aber, das Kronos erst mit dem Stahl abschnitt und dann vom Land ins wogende Meer warf, trieb lange Zeit in den Wogen, und rings entstand weißer Schaum aus dem unsterblichen Fleisch; darin wuchs ein Mädchen. Zuerst trieb es zum hochheilligen Kythera hin, von dort dann kam es zum meerumflossenen Kypros. Heraus aber stieg die hehre, herrliche Göttin, und ringsum sprosste frisches Grün unter ihren schlanken Füßen. Götter und Menschen nennen sie Aphrodite."
Rausch und Ekstase begleiten die Schaumgeborene seit ihren Anfängen, aber auch der Gegenpol lässt sich finden: die sublimierte, vergeistigte Liebe. Zwischen diesen Gegensätzen wird Aphrodite vielfältig verhandelt: als Retterin, Lügnerin, verwerfliches Negativbeispiel, bis hin zur desexualisierten Anti-Venus. Das Wechselverhältnis von hochaufgeladener Erotik und ihrem Gegenteil, der Entsinnlichung, bleibt über die Jahrtausende hinweg erhalten.
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"Mythos Salome"

Salomes Tanz hat sie alle um den Kopf gebracht. Johannes den Täufer und all die Gäste, die ihr zuschauten, wie sie Schleier um Schleier von sich warf - und auch sich selbst. Mächtig war die Tänzerin, der als Belohnung ein halbes Königreich geboten wurde, doch sie wollte lieber den Kopf eines sittenstrengen Wüstenpredigers ... Die Salome-Geschichte ist im Laufe der Jahrhunderte in Literatur, Malerei und Musik vielfach interpretiert und bearbeitet worden, bis ins Fin de Siècle, in dem sie den neuen Typus der femme fatale begründete.
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"Unter den vielen verführerischen, sündigen, ruchlosen Frauen, die der westlichen Vorstellungswelt keine Ruhe lassen, ist keine, die einen grausigeren Ruf hätte als Medea", schrieb Margaret Atwood. In dieser Anthologie sind die wichtigsten und interessantesten Texte zum Mythos Medea zusammengestellt und kommentiert: Euripides, Ovid, Seneca, Konrad von Würzburg, Bocaccio, Christine de Pizan, Lessing, Grillparzer, Nietzsche, Seghers, Franka Rame, Dario Fo, Heiner Müller, Ursula Haas u. v. a.
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"Mythos Pandora"

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Diese Anthologie versammelt literarische und philosophische Beiträge aus über 2000 Jahren Kulturgeschichte.
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