Peter Handke: "Kali"

Eine Vorwintergeschichte


Eine Fantasy-Parodie?

Der Kerngedanke dieser 'Vorwintergeschichte' (Untertitel) könnte sein: "Ein Wunder eigentlich, dass so viele von uns am Abend zurück nachhause finden, nicht wahr? ... Ein Wunder eigentlich, wie wenige es sind, die Tag für Tag verloren gehen, nicht wahr?" Sind das Assoziationsfetzen des völlig uncharakterisierten Ich-Erzählers oder der spröden Protagonistin? Es bleibt ein überflüssiges Rätsel, wozu sich Handke hier den Luxus eines Ich-Erzählers leistet, welcher zur Hauptfigur in keinerlei Beziehung steht und eigentlich nur wie eine Überwachungskamera Äußerlichkeiten festhält.

In einem geheimnisvollen Handke-Land der Heimatlosen und Entrechteten verschwinden auf unerklärliche Weise die Kinder. Aus der Ferne kommt eine Sängerin, die als "Finderin" symbolträchtig das letzte verlorene Kind wiederfindet. Eine für Handke-Verhältnisse doch recht mysteriöse Fantasygeschichte. Und wer oder was ist nun eigentlich Kali? Ist sie die geheimnisvolle Fremde, die dem Erzähler "Angst macht." Oder ist sie die indische Göttin der Vernichtung und der Erneuerung. Oder verweist der Titel auf den Kalibergbau in einem Land, dessen Untergrund aus Salz besteht. Und hier gibt es "Überlebende des Dritten Weltkriegs, der rund um uns schon seit langem wütet, unerklärt, wenig sichtbar, aber umso böser." Als Handke-Leser muss man hartgesotten sein, das weiß man - aber bisher handelte es sich immer um intellektuelle Provokationen. Wie aber passt nun diese Fantasy-Parabel ins große Handke-Puzzle?

Erzählt wird von einer Zeit, "in der so viel möglich war wie vielleicht noch nie, im Bösen und im Guten, und vor allem im Unerhörten." Dieser letzte Begriff verweist uns gar noch in die Überlegung, ob dieser Prosatext womöglich eine Novelle sei, erinnern wir uns doch spontan an Goethes Äußerung im Gespräch mit Eckermann vom 29. Januar 1827: "denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit." Und doch behauptet jemand in Handkes Text: "Das handelt ja klar von heute." Freilich ist Handkes Stärke die Verklärung des Gewöhnlichen und die Ästhetisierung alles Beobachtbaren. Und dazwischen ein paar Dosen Kulturkritik - aber wie vertragen sich Symbolik und Kitsch? Es mag überraschen, dass sich bei einem Autor wie Handke überhaupt das Kitsch-Problem stellt, aber das Abdriften der Protagonistin in eine Traum- oder Zwischenwelt mutet zumindest bizarr an.

Es geht auf den Gipfel eines Kalibergwerks hinauf und hinunter in den Bergwerkschacht. Handke mixt dazu Heils- und Unheilsgedanken, Biblisches, Mythologisches, ja sogar etwas Artus-Sage zusammen, so dass einem Zweifel kommen, ob man sich nun im Niveau ganz oben oder ziemlich unten befindet, denn immerhin entführt uns der Erzähler quasi bis in die Hölle, von der eine Pastorin berichtet: "Eine Hölle ohne Teufel. Eine Hölle ohne Flammen. Eine Hölle ohne Schall und Wahn, erzählbar von niemandem." Das klingt doch auch irgendwie nach Shakespeare: "Life's but ... a tale / Told by an idiot, full of sound and fury / Signifying nothing" (Macbeth V,5). Wir erleben eine ziemliche Ortlosigkeit, die Figuren verschwimmen - alles löst sich auf zu Pathos und Prophetie. Hoffentlich ist das wenigstens Selbstironie, wenn da gegen Ende steht: "Und nun ausgezittert (...) Und auch genug gepredigt, zurück zur Prosa."

Die namenlose Protagonistin will ihre "Kindergegend" aufsuchen: "Der Untergrund dort besteht bis in die tiefsten Tiefen aus Salz-Kali. Es soll dort einmal ein großes Meer gewesen sein. Und dieses Salz wird abgebaut." Als sie auf einem Zwischenstop ihre Mutter besucht, erfahren wir zumindest etwas Persönliches: "Ich habe dich nicht gebären wollen." In dem Dorf jenseits des großen Sees nahe dem Salzberg erfährt die Protagonistin von der Pastorin, die Kinder "verschwinden, gehen, jeden Tag mehr, verloren, sind verschollen." Und vor allem ein ganz bestimmtes Kind "muss gefunden werden." Und spätestens ab hier (etwa der Hälfte des Buches) wird die Geschichte eigentlich Handke-fremd.

Die Protagonistin gelangt zum sogenannten "Salzherrn" und dessen kleinem Sohn. Handke nennt sie jetzt die "Eindringlingin", die sagt: "Ich weiß, es graut Ihnen vor mir." Und er: "Sie, Frau, verkörpern den Tod." Ein eingefleischter Handkejaner liest doch hier nicht weiter, oder?! Es wird melodramatisch: "wenn wir beide, unser beider Körper, einander lieben, müssen wir sterben." Der Salzherr, auch "Grubenherr" genannt, erzählt, dass im Dorf Flüchtlinge ansässig wurden - und dass vor zehn Jahren das letzte, jetzt vermisste, Kind geboren wurde. Entsprechend heißt die Gegend originellerweise "Toter Winkel". Jedenfalls wird dieses besondere Kind gefunden, und der Text ebbt irgendwie unauffällig aus. Wenn dies eine Parabel sein soll, dann mag Handke wissen wofür - es fehlt aber - bei all dem vielen Salz - die rechte Würze. Vielleicht ist es ja auch eine Fantasy-Parodie, welche den Kitsch zum parabolischen Element überhöht. Und vielleicht ist der Ich-Erzähler auch der oben zitierte Idiot, der mit seiner Geschichte zu keiner Sinnstiftung gelangt.

(KS; 02/2007)


Peter Handke: "Kali. Eine Vorwintergeschichte"
Suhrkamp, 2007. 161 Seiten.
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Zwei weitere Bücher des Autors:

"Die morawische Nacht" Erzählung

Ort: der Balkan, die Morawa, ein Zufluss der Donau, ein Hausboot auf dem Fluss. Zeit: eine Nacht, vom späten Abend bis zum blauenden Tagesbeginn. Personen: Ein Autor, ein ehemaliger, ruft seine Freunde, sieben an der Zahl, auf das Hotelschiff, seine Enklave, wohin er sich ein Jahrzehnt zuvor zurückgezogen hat.
Die erste Überraschung erleben die Bekannten gleich beim Betreten des Boots: Der für seine Distanz zu den Frauen berüchtigte Ex-Autor empfängt sie in Begleitung einer - Angestellten?, Gefährtin?, Geliebten? Auf das Abendmahl folgt eine lange Erzählung, in der die Stimme des Autors dominiert, in die sich zuweilen die Stimmen der anderen männlichen Anwesenden einpassen. Von einer gerade beendeten Rundreise des Bootsbesitzers durch das westliche Europa handelt die Erzählung. War er wirklich auf der Flucht vor einer Gefahr, etwa vor einer Frau, die ihm mit dem Tod drohte? Wie hat man sich das Symposium über den Lärm vorzustellen, an dem er angeblich in Spanien teilgenommen hat? Was hat es mit dem Treffen aller Maultrommelspieler dieser Erde vor Wien auf sich? Warum will er gerade zu diesem Zeitpunkt den Wohnort seines verstobenen Vaters in Deutschland aufsuchen? Und wo hat er die Frau getroffen? Und überhaupt: Wie lange dauerte die Reise?
In dieser romanlangen Erzählung Peter Handkes nimmt die Wirklichkeit unserer Gegenwart immer bedrückendere Gestalt an. Gleichzeitig wird das Gewicht der Welt ein anderes - ein leichteres? (Suhrkamp)
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"Mein Tag im anderen Land" zur Rezension ....

Lien: Sonderseite zu Peter Handke bei Suhrkamp