Peter Handke: "Leben ohne Poesie"

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulla Berkéwicz


Der prosaische Lyriker

In ihrem Nachwort berichtet Ulla Berkéwicz von den Mühen, die es sie gekostet hat, Handke zur Publikation eines Bandes mit seinem Lyrikbestand zu bewegen - er habe abgelehnt mit der Begründung, er sei kein Lyriker. Wie das vorliegende Buch beweist, hatte er schließlich doch eingewilligt. Freilich könnte man ja auch fragen, was die Sammlung aus bereits vorhandenen Lyrikbänden soll - der Fan und Kenner wird die "Originale" bereits haben. Stellen wir uns also vor, es wäre Musik: da ist es durchaus üblich, auch eine "Das Beste von ..."-Kompilation zu haben. Also schmökern wir etwas in Handkes Gedichten aus dem Zeitraum 1969 bis 1986.

Den ersten Teil bilden die wesentlichen Texte aus 'Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt' - im zweiten Teil finden sich Gedichte aus 'Das Ende des Flanierens' und jene, die in den fünf sogenannten 'Notizbüchern' enthalten sind. Handke selbst hat sie "gemixt" und teilweise leicht überarbeitet. Den dritten Teil bildet das 'Gedicht an die Dauer' - der vierte Teil 'Leben ohne Poesie' entstammt dem Band 'Als das Wünschen noch geholfen hat'.

Früher hatte sich Handke noch mit den wesentlichen Dingen der Existenz beschäftigt - z.B. mit der Erfahrung, etwas zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen zu haben. Zu bedenken gilt es wohl dabei, dass den meisten Menschen die meisten Ersterfahrungen überhaupt nicht als solche bewusst sein dürften - das wäre andererseits überhaupt der Ausweg aus der Empfindung des taedium vitae: jede Erfahrung in ihrer jeweiligen Konstellation wieder als eine neue (= erste) zu empfinden. Konstitutiv für unser Leben ist wohl auch die Zeit - mit welch erschreckender Logik dichtete Handke damals noch: "Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit."

Bei Handke hat man das Gefühl, dass das sogenannte Lyrische Ich sehr identisch mit ihm selbst ist - und dass dieses Lyrische Ich eher sehr prosaisch ist. Nein, ein begnadeter Lyriker ist Handke gerade nicht - und es geht auch eher ums Begreifen als ums Ergriffenwerden. Womit wir über den Inhalt ein formales Problem bekommen: handelt es sich manchmal wirklich und eigentlich noch um Lyrik?! Eher wohl um Philosophie, wenn uns Handke die Absurditäten des Lebens um die Ohren haut! Er hat schon immer zu denjenigen gehört, die scheinbar Banales für uns auffällig gemacht haben. Allerdings packt er die menschliche Kernproblematik beim Schopf, wenn er etwa über 'Die Besitzverhältnisse' räsoniert: "Mit dem Wort ICH fangen schon die Schwierigkeiten an." Oder mit welchem Recht benutzt man das Possessivpronomen: "MEINE Erinnerungen" - "MEIN Land" - "MEIN Gott"?! Allerdings der steckbrieflich Gesuchte beteuert vor seinem Bild: "das bin nicht ICH."

Oder wem ist schon einmal bewusst geworden, wie viele Rollenzuweisungen wir erdulden müssen, wie sie uns Handke in den 'Veränderungen im Lauf des Tages' vorexerziert - wir verwandeln uns unmerklich in einen Fußgänger, einen Kunden, einen Antragsteller, einen Neugierigen, einen Wanderer, ein Objekt, ein Hindernis. Mit die nachhaltigsten Textpassagen Handkes sind wohl 'Die drei Lesungen des Gesetzes', wo es nach der Verkündigung der eingeschränkten Rechte des Staatsbürgers heißt: "Allgemeiner, stürmischer, nicht enden wollender Beifall." Oder die Texte, in denen versuchsweise etwas verglichen oder verwechselt wird, in denen Wahrnehmungen variiert werden - und eigentlich kulminiert doch alles in der Bemerkung: "jedes Wort / ist ein Reizwort" - und noch erschreckender: "schon erscheint mir jeder Satz als ein Traum von dem, was ich wahrnehme." Handke forderte immer wieder von der Literatur die Auflösung konventionalisierter Bedeutungen, den Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Als Konsequenz musste er der Literatur den Anspruch auf Realismus verweigern.

Leider sind die Texte in 'Das Ende des Flanierens' heute eher noch nichtssagender als bei ihrem ersten Erscheinen (1980). Großartig dagegen nach wie vor das Langpoem 'Gedicht an die Dauer' (1986), das man lesen kann als ekstatischen Essay. Das Schlusskapitel bildet sozusagen die Kompilation 'Leben ohne Poesie' (1974), wo tapfer Erinnerungen und Beobachtungen und Reflexionen addiert werden - oft sehr prosaisch, so dass der Ausruf am Ende eher zynisch klingt: "Wie stolz bin ich auf das Schreiben gewesen!" Denn schließlich muss die freche Frage bleiben: wer hat mehr Poesie: Handke oder das Leben?!

(KS; 01/2008)


Peter Handke: "Leben ohne Poesie"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulla Berkéwicz.
Suhrkamp Verlag, 2007. 240 Seiten.
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