Denis Grozdanovitch: "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit"

Boris Becker als Kaffeehausliterat


Vor einigen Jahren erschien in Frankreich ein erfolgreiches Buch mit dem Titel "Die Kunst der Siesta", von Thierry Paquot. Es ging darin um das Faulsein Können und die Kunst, zu jeder Gelegenheit einzunicken. Es war ein Lob der Müdigkeit. Das Buch stand im Gefolge des äußerst lesenswerten Buches "Versuch über die Müdigkeit" von Peter Handke, der womöglich durch seinen Wohnort bei Paris und die Teilnahme am französischen Leben dazu gebracht wurde, es in dieser Art und Weise zu verfassen. Wahrscheinlich ist der neue Bestseller unter den Kaffeetischbüchern "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit", ein Buch, das seinen Erfolg diesen Vorläufern verdankt. Aber durch seine autobiografischen Einsprengseln, die den Autor als Sportlernatur auszeichnen, ist es ein sehr selbstständiges und verblüffendes Werk geworden.

Geschrieben wurde es vom 1946 geborenen Pariser Autor Denis Grozdanovitch, der in Frankreich etwa so bekannt ist wie Boris Becker, seitdem er mehrmals die französischen Tennismeisterschaften gewonnen hat. Grozdanovitch führt seit Jahren ein Notizbuch, in dem er sich über die verschiedensten Themen Gedanken macht. Sein erzählerischer Horizont reicht von philosophischen Betrachtungen über Anekdoten aus seinem Tennisprofi-Leben bis hin zur feuilletonistischen Kritik des Werks von Paul Leautaud. Eine Blütenlese davon kam 2002 unter dem Titel "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit" heraus, hätte aber genauso gut "Was mir der Tag zuträgt" oder "Lektüre für Minuten" heißen können, denn eine Abhandlung ist es nicht, und um Gelassenheit geht es nur in der Titelgeschichte. Und doch steht der Titel in einem Gesamtzusammenhang: Der Beachtung der "kleinen" Dinge des Lebens, dem "Unwichtigen", das doch bei genauerer Analyse treffender das "Salz" des Lebens genannt werden könnte, und ohne das menschliches Leben undenkbar erscheint.

So geht es beispielsweise um die Frage, was man mit einer uralten schizophrenen Großmutter machen soll, die an Verfolgungswahn leidet. Grozdanovitchs Frau verfiel auf die Idee, ihr eine Handpuppe zu schenken, und tatsächlich gelang es, die Pathologie auf diese Puppe zu lenken, und der Großmutter selbst, wenn sie für sich sprach, wieder etwas von der alten Persönlichkeit zurückzugewinnen. Es geht um Leben und Sterben der Hauskatze, um Männerhobbys wie Modellflugzeugbau oder Drachensteigen oder Angeln, und in der - für mich besten - Geschichte über das Schachspiel und die Schachspieler entsteht der Eindruck großer Literatur: Durchgeistigt, präzise und mit herrlichem Humor.

Textprobe über einen Grantler und Emigranten:
Einer von ihnen, Monsieur Huber, ein alter österreichischer Lehrer, winzig, Halbglatze, im allgemeinen in Golfhosen, nie liebenswürdig, hinter kleinen ovalen Brillengläsern stets erzürnt die Augen rollend, war im Innersten davon überzeugt, ein verkanntes Schachgenie zu sein, und hatte die Angewohnheit, wenn einer von uns jungen Spielern es wagte, einen Angriff gegen den Betonbunker seiner Rochade zu starten, mit deutlichem Akzent und hysterischer Kopfstimme zu jaulen (was den ganzen Saal empörte): "Ah, jeetzt ... Die spoatliche kadholische Jugend! Wunderboar! Die scheene unschuldige Jugend!" Daraufhin sammelte er sich einen Moment lang, sprang dann buchstäblich mit einem Satz von seinem Stuhl, schnappte sich einen der eigenen Läufer - den er wie ein Springteufelchen von seiner Ausgangsposition empor schnellen ließ - um ihn unter großem Getöse inmitten der gegnerischen Figuren wieder landen zu lassen, welche dann stets bis unter den Tisch gewirbelt wurden ... während er lauthals frohlockte (und damit den erneuten Protest der gestörten Versammlung auslöste): "Wos sogn S’ dazua, junger Mann? Ah, jeetz ... Mit ane solchen Pfadfindertricks wern S’ den olten Huber net aus der Fossung bringan!" Und griesgrämig setzte er sich bis zum nächsten Alarm wieder auf seinen Stuhl.

Es ist Kaffeehausliteratur, wie man sie heute nur mehr sehr selten findet. Peter Altenberg war nicht besser. Am Ehesten kann man "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit" mit dem Werk des Berliner Autors Max Goldt vergleichen. Die Betrachtungen sind komisch, verwenden versatzstückweise Auszüge aus Büchern, die der Autor gelesen hat (hier reicht das Spektrum von Boswell über Nietzsche, Thoreau) und sind thematisch unglaublich breit gefächert. Denis Grozdanovitch beweist mit diesem Buch, wie wenig Vorurteile gegen schreibende Tennisprofis angebracht sind. Gott segne ein Land, das solche Sportler hat!

(Berndt Rieger; 11/2004)


Denis Grozdanovitch: "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit"
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
Liebeskind, 2004. 198 Seiten.
ISBN 3-935890-26-5.
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Denis Grozdanovitch, 1946 in Paris geboren, wurde mehrmals französischer Tennismeister und verdient heute seinen Lebensunterhalt mit Trainerstunden. Seine "Kleine Abhandlung über die Gelassenheit", die 2002 in Frankreich erschien und mittlerweile in der achten Auflage ist, entstand über viele Jahre hinweg in Pausen zwischen zwei Tennismatches, auf Reisen von einem Turnier zum anderen oder an freien Tagen bei ihm zu Hause in Paris.