Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: "Gerüchte machen Geschichte"

Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert


Epidemie oder Strategie

Das vorliegende Buch dokumentiert und diskutiert "Folgenreiche Falschmeldungen im 20. Jahrhundert" (Untertitel), deren politische und militärische Konsequenzen oft verheerend waren, deren Ursachen aber nur selten aufgeklärt werden konnten. Anschließend an ihren Band "Deutsche Legenden" (2002) behandeln die Autoren hier elf Vorgänge, die für Deutschland von zentraler Bedeutung waren - vom Ersten Weltkrieg über die NS-Zeit, dem 
Kalten Krieg bis in die Gegenwart. Dabei wird zunächst die jeweilige Fehlinformation vorgestellt, dann werden Ursachen, Verlauf und Konsequenzen erörtert.

Etwa das Beispiel des Einmarsches deutscher Soldaten in Belgien 1914, wo es hieß, belgische Zivilisten würden aus dem Hinterhalt auf die Invasoren schießen - oder die Kartoffelkäferplage 1950 in der DDR, 
für die die USA verantwortlich gemacht wurden. In den 1960er Jahren wurde der damalige Bundespräsident Heinrich Lübke in einer Kampagne der SED als "KZ-Baumeister" denunziert. Dass Gerüchte auch positive Folgen nach sich ziehen können, zeigen die Kapitel über das (angebliche?) Waldsterben in Deutschland (1979-1988) oder über den (missverstandenen) Fall der Mauer (1989).

Gerüchte gedeihen auf dem Boden der Spekulationen und Verunsicherung. Wenn auch eine sozialwissenschaftlich fundierte Gerüchteforschung erst im Jahre 1942 in den USA mit der Gründung der ersten "rumor-clinic" begann, waren die manipulativen Möglichkeiten von Falschmeldungen schon in der Antike bekannt. Für den französischen Soziologen Jean-Noël Kapferer sind Gerüchte das "älteste Massenmedium der Welt", sie sind die Ersatzöffentlichkeit des kleinen Mannes - entweder systemgefährdend-subversiv oder auch systemstabilisierend, wenn von oben gesteuert. Gerüchte sind kollektives Wunschdenken oder Katastrophenbewusstsein. Im vorliegenden Buch verstehen die Autoren unter Gerüchten "sachlich falsche Nachrichten über politische Zusammenhänge".

Gerüchte sind vergleichbar mit Epidemien, sie verbreiten sich chaotisch - und sie scheinen resistent zu sein gegenüber der Aufklärung. Im übrigen ist die wohl beeindruckendste bildliche Darstellung eines Gerüchts die gleichnamige Lithografie von A.Paul Weber aus dem Jahre 1943. Moderne Gerüchte verbreiten sich im Spannungsfeld zwischen Politik, Medien und Öffentlichkeit. Dabei gibt es strategisch gestreute Desinformationen oder einfach entstandene Missverständnisse - teils mit schlimmen Folgen, teils mit positiven Auswirkungen. Gerüchte können propagandamäßig eingesetzt werden, sie können Ängste schüren oder Rechtfertigungen vorprogrammieren. Der übelste Gerüchteverbreiter der letzten Jahre war bekanntermaßen der us-amerikanische Präsident Bush.

Eine vergleichsweise harmlose Behauptung wurde im Mai 1950 in der DDR vom Ministerium für Land- und Forstwirtschaft verbreitet: Kartoffelkäfer seien von us-amerikanischen Flugzeugen abgeworfen worden, um die Ernte zu vernichten. Zusätzlich erhob man den Vorwurf, das Leverkusener Unternehmen Bayer wolle ein neues Kartoffelkäfer-Bekämpfungsmittel testen. Der Agrarstaatssekretär lieferte die Wortschöpfung "Ami-Käfer" - und selbst Brecht schrieb ein Gedicht darüber! Fast drei Monate lang gab es heftige Pressekampagnen, bis die Käfer plötzlich wieder von den Feldern und aus den Schlagzeilen verschwunden waren. In Wirklichkeit war es zu einem natürlichen vermehrten Kartoffelkäfer-Befall gekommen, und das Gerücht mit dem "Ami-Käfer" sollte die DDR-Bürger stärker motivieren, bei den Einsammelaktionen auf den Feldern zahlreicher mitzuhelfen. Freilich sollte auch der Kalte Krieg etwas aufgeheizt werden - und es war zu befürchten, dass die vorgegebenen Hektarerträge nicht erzielt werden würden, wofür es auch einer Rechtfertigung bedurfte.

Oder: im Januar 1966 verkündete Albert Norden, seinerzeit Chefpropagandist der SED, "Bundespräsident Heinrich Lübke baute Hitlers Konzentrationslager". Dieser Gedanke wurde von den radikalen Linksintellektuellen in der BRD bereitwillig aufgegriffen, um den Staat als restaurativ zu brandmarken. Schließlich forderten auch liberale und konservative Blätter im Westen den Rücktritt Lübkes. Tatsache ist, dass Lübke im Architekturbüro Walter Schlempp an der Planung von Rüstungsfabriken mitarbeitete. Das angebliche Beweismaterial für den KZ-Barackenbau Lübkes war von der Stasi gefälscht und manipuliert. Keil und Kellerhoff gelangen auch zu dem Schluss, dass die Behauptungen der RAF-Gefangenen hinsichtlich "Isolationsfolter" und "Vernichtungshaft" agitatorisch maßlos übertrieben gewesen seien - ebenso wie die Horrorszenarien der frühen 1980er Jahre über das "Waldsterben". Die Grünen-Politikerin Renate Künast soll mittlerweile attestiert haben: "Der Wald wächst wieder gesünder, die Flächen nehmen zu."

Im Grunde ein lesenswertes Buch, welches freilich beim Leser generelles Misstrauen auslösen sollte: traue keiner Propaganda und keinen Dementis! Die Wahrheit über brisante Themen gibt es auch im Zeitalter des sogenannten investigativen Journalismus selten aktuell, oft erst Jahre später - wenn überhaupt. Wir brauchen jedenfalls die Pressefreiheit und kritische Journalisten wie Keil und Kellerhoff, die unsere Skepsis wachhalten gegenüber ideologischen bzw. taktischen Übertreibungen und uneindeutigen, missinterpretierbaren Formulierungen, Verlautbarungen oder Regierungserklärungen.

(KS; 05/2006)


Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff: "Gerüchte machen Geschichte"
Christoph Links Verlag, 2006. 320 Seiten.
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Die Autoren:
Lars-Broder Keil: Jahrgang 1963, Studium der Journalistik in Leipzig. Seit 1989 als Journalist tätig, u.a. für die "Freie Welt", "Die Zeit" und die "Welt am Sonntag", 1991/92 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg, seit 1999 Redakteur im Ressort Politik der "Berliner Morgenpost" mit Schwerpunkt Zeitgeschichte und Sozialpolitik.
Sven Felix Kellerhoff: Jahrgang 1971, Studium der Geschichtswissenschaften in Berlin, Absolvent der Berliner Journalisten-Schule (BJS); seit 1993 als Journalist mit Schwerpunkt Zeitgeschichte tätig; seit 1997 beim Axel-Springer-Verlag, u.a. als verantwortlicher Redakteur für Wissenschaft und Kultur der "Berliner Morgenpost"; seit 2003 Leitender Redakteur der Tageszeitung "Die Welt", verantwortlich für Zeit- und Kulturgeschichte.

Ein weiteres Buch des Autorenduos:

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