"Ein Weggefährte der Geschwister Scholl"

Die Briefe des Josef Furtmeier 1938-1947


Außergewöhnliche Zeitzeugendarstellung

Josef Furtmeier (1887-1969), ein bayrischer Justizbeamter, war ein Mensch mit tiefem philosophischem und religiösem Interesse, dabei ein unabhängiger Geist, ein Querdenker. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg beobachtete er mit großer Sorge den von Deutschland eingeschlagenen Weg. Als Nazigegner wurde er 1933 aus dem Staatsdienst entlassen. Über gemeinsame Bekannte begegnete er Hans Scholl, dem Kopf der "Weißen Rose", und hatte spürbaren Einfluss auf den jungen Mann. Im Zuge des Prozesses gegen die Geschwister Scholl und ihre Freunde wurde auch Furtmeier von der Gestapo verhaftet, mangels klarer Beweise jedoch freigesprochen.
Nach dem Krieg betätigte sich Furtmeier aktiv bei der Entnazifizierung. Er konnte es nicht ertragen, dass sich die meisten Deutschen nicht an die Nazigräuel erinnern wollten.

Zu Beginn des Buchs findet der Leser Josef Furtmeiers Biografie. Auch der Adressat der Briefe wird porträtiert.
Die Briefe, die den Hauptteil des Buchs ausmachen, sind an einen Freund Furtmeiers aus dem Ersten Weltkrieg gerichtet, der mit seiner Familie 1934 vor den Nazis in die Schweiz geflohen war. Sie stammen aus den Jahren 1938 bis 1947. Ein Bezug zu den Geschwistern Scholl taucht nur in verschlüsselter Form kurz nach deren Hinrichtung auf sowie unmittelbar nach dem Krieg, als Furtmeier sich ohne Zurückhaltung äußern konnte. Das Buch ist also keine weitere Veröffentlichung über die "Weiße Rose", sondern präsentiert Josef Furtmeier als eigenständigen Zeitzeugen, der als gebildeter, unbestechlicher Beobachter die
Zustände im Dritten Reich darstellt.
Verblüffend unverblümt schreibt Furtmeier seine Meinung nieder; es überrascht, wie selten die Zensur eingriff. Das Münchner Abkommen von 1938 entlarvt er klar als Farce, über den Krieg hat er keine Illusionen, hart greift er die Kirchen an, insbesondere die eigene, katholische, die seiner Meinung nach nicht zuletzt aus materiellen Interessen mit den Machthabern paktiert. Immer wieder greift er die Verrohung der Menschen auf, wettert nicht selten pauschal gegen das Deutsche. Zwischen den Zeilen findet man Verzweiflung und Hilflosigkeit, Ohnmacht, zunehmend auch Resignation.
Nach dem Krieg scheint Furtmeier nicht glücklicher zu sein: Die Nazis besetzen immer noch die Schlüsselpositionen, Bemühungen zur Entnazifizierung empfindet er als lau. Auch die Frustration darüber, dass er nicht die seiner Ansicht nach angemessene Beförderung erfuhr, wird deutlich. Im letzten der abgedruckten Briefe scheint durch, dass Furtmeier die Wiederkehr der chaotischen Verhältnisse von 1918 befürchtet.

Zur Persönlichkeit Furtmeiers, wie sie sich in den Briefen darstellt, werden die Leser unterschiedliche Einstellungen entwickeln. Furtmeier war mit Sicherheit ein unbequemer Mensch, der an seine Mitmenschen so hohe Ansprüche stellte wie an sich selbst. Er besaß offensichtlich einen scharfen analytischen Verstand, doch es scheint, dass er sich mit den Jahren ausschließlich der Vergangenheit zuwandte: In seinen Gedanken lässt er der Zukunft kaum noch Raum, überraschenderweise vor allem nach dem Krieg. Seine Erfahrungen machten ihn wohl tendenziell zum Misanthropen, der fast nur mit seinen Büchern und der Erinnerung an die fernen Freunde lebte. Es erstaunt eigentlich, dass solch ein kompromissloser Mensch nicht aktiv im Widerstand tätig war, sondern lediglich als ein geistiger Ziehvater von Hans Scholl wirkte.
Als Zeitdokumente sind Furtmeiers Briefe einmalig. Er umreißt die Situation in Deutschland erschreckend klar und direkt und sieht manche Entwicklung deutlich voraus. Sein Freundeskreis umfasst weitere mehr oder weniger bekannte Nazigegner und vermittelt einen Einblick in deren Leben.
Die jungen Herausgeber haben zu den einzelnen Briefen eine Fülle von Anmerkungen verfasst, in denen Andeutungen und Verschlüsselungen, aber auch erwähnte Personen hervorragend erklärt werden.

Eine aufschlussreich-interessante und anrührende Lektüre für Menschen jeden Alters, die sich über das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte aus erster Hand informieren möchten!

(Regina Károlyi; 12/2005)


"Ein Weggefährte der Geschwister Scholl"
dtv, 2005. 158 Seiten. Mit biografischem Essay und Erläuterungen sowie Abbildungen.
ISBN 3-423-24520-4.
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Weiße Rose Stiftung e.V.

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