Erich Fromm: "Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft"

Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen, sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind.
(Meister Eckhart)

Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, um so mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben.
(Karl Marx)


Zwei Existenzweisen stehen dem modernen Menschen zur Auswahl: Die Existenzweise des Habens oder die Existenzweise des Seins. Dabei handelt es sich, wie das Wort „ODER“ schon andeutet, um zwei miteinander unvereinbare existenzielle Grundeinstellungen, die als konkurrierende Gegensätze ein klassisches Entweder-Oder-Dilemma produzieren.

In der Existenzweise des Habens leben heißt, sich an der Anhäufung von Vermögen zu orientieren, wobei der Vermögensbegriff bei Fromm gleichermaßen materielle wie geistige Güter einschließt. Im Gegensatz dazu bedeutet Seins-Orientierung die Hinwendung zu einem lebendigen Dasein im Hier und Jetzt irdischer Geworfenheit. Der Seins-Orientierte besitzt zwar auch Gegenstände des alltäglichen Lebens, nennt Vermögensgüter sein Eigen, doch besitzt er so, als ob er nicht besitzen würde. Er ist von ihnen innerlich frei, ihnen nicht emotional verhaftet, oder um es mit der Sprachweise des Mystikers Meister Eckhart zu sagen: Er ist ihrer ledig. Im Grunde nutzt er die Dinge nur für die alltäglichen Verrichtungen seines Seinsvollzugs und ist deswegen auch gerne bereit, sein verbrieftes Nutzungsrecht mit anderen zu teilen, sich solidarisch zu verhalten und vom Überfluss seines Einkommens einen gewichtigen Teil der Allgemeinheit zur Finanzierung gemeinschaftlicher Aufgaben zu überlassen, da er nicht so sehr an seinem Geld hängt, um dafür soziales Elend kaltschnäuzig hinzunehmen. Sich am Sein zu orientieren, bedeutet das Leben zu lieben.

Der am Haben Orientierte ist der konträre Typus dazu und scheint im Unterschied zum am Sein Orientierten mit seinem materiellen und geistigen Besitzstand geradezu verwachsen zu sein. Ohne diesen Besitz fühlt er sich leer, wie ein existenzielles Nichts. Seelisch längst schon verkümmert, sucht er persönliche Entfaltung im Wachstum seiner Vermögensbestände, wobei ihm alle Menschen (wenn nicht sogar alle Lebewesen) bloße Konkurrenten sind, und so ist sein Sozialverhalten nichts anderes als praktizierter Egoismus, der in seinem Bestreben nach zwanghafter Hortung von Besitzgütern (und Macht über Leben) bis hin zu kriminellen Verhaltensweisen gelangen kann. Nur Totes lässt sich wirklich und sicher besitzen, und aus eben dieser Binsenweisheit erkennt Fromm an der Habens-Orientierung eine ausgeprägte Neigung zur Nekrophilie (Liebe zum Leblosen), was übrigens die seelische Grunddisposition für Umweltzerstörung, Kriegspolitik, antisozialstaatliche Bestrebungen und ganz grundsätzlich für die Wirtschaftsform des Kapitalismus sei (dem es darum zu tun ist tendenziell alles Dasein zu kapitalisieren; also im Sinne einer bloßen Zweckbestimmung zu verdinglichen).

Als Zeugen für seine eigentlich uralte These vom ewigen Widerspruch zwischen Haben und Sein bemüht Fromm höchste Autoritäten aus der Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit, wie beispielsweise: Die Autoren des Alten und Neuen Testaments, Jesus, Buddha, Karl Marx, die alten Griechen, Baruch de Spinoza, Albert Schweitzer, Meister Eckhart und noch einige andere. Und so faszinierend und teils wirklich überzeugend die Auslegung dieser Klassiker menschlicher Kulturgeschichte als Seins-Propagandisten auch immer sein mag, so beschleicht einen in den diesbezüglichen Textstellen doch zeitweilig der Verdacht, Fromm befleißige sich eines allzu unkritischen Umgangs mit sakrosankten Größen der Menschheitsgeschichte, deren allfällige Dogmatisierung zu inhumanen Ideologien der Menschheit auch viel Unglück einbrachte, woran die geistigen Väter nicht immer ganz unschuldig waren (es gibt durchaus ernsthafte Persönlichkeiten, nach deren Auffassung im Denken von Marx der autokratische Stalinismus bereits genauso angelegt ist, wie in der Bibel das Wüten der Heiligen Inquisition).  Man gewinnt ein wenig den Eindruck, dass Fromm die Verklärung jener großen Namen zu einer überzeitlichen Elite von Weisheitslehrern betreibe, in deren geistiger Gefolgschaft er sich mit seinem Schrifttum bequem einzurichten trachtet. Ganz nach dem unredlichen Motto: Eine Auffassung, die schon von Autoritäten wie Jesus, Buddha, den griechischen und christlich-abendländischen Klassikern sowie von Karl Marx unisono vertreten wurde, die muss einfach richtig sein und bedarf keiner weiteren Hinterfragung. Solcherart immunisiert man sich jedoch selbst noch gegen jede Form wohlmeinender Kritik, was dem noblen Gedanken seine dialektische Entwicklungsfähigkeit nimmt, ihn zur unabänderlichen Idee erstarren lässt, die man als geistiges Gut besitzt. Somit begünstigt Fromm eine Entwicklung, die er doch gerade in Bezug auf sein Denken nicht wollen kann; eine Entwicklung hin zur Habens-Orientierung.

Fromm handelt sein Thema auf sehr lebendige und für jedermann nachvollziehbare Weise ab. Nicht nur Philosophen und Religionsstifter werden von ihm reflektiert, um eine intellektuelle Annäherung anzubahnen, sondern „Haben und Sein“ wird in der alltäglichen Erfahrung verprobt, beim Lernen, Erinnern, miteinander Sprechen, Lesen, Autorität Ausüben, Wissen, Glauben und Lieben, womit der Gegenstand des Buches für den Leser unmittelbar erfahrbar wird. Und die Nähe zur alltäglichen Lebenswirklichkeit ist eben auch die vielleicht größte Stärke dieses Buches, das nicht aus erdbebensicherer Warte geschrieben ist, sondern am Leben teilhat, sich in die Niederungen menschlicher Weltgeworfenheit herab begibt. Tätigsein, Aktivität und Passivität, der Wille zu geben, zu teilen und zu opfern, die Antagonismen von Sicherheit und Unsicherheit, Solidarität im zwischenmenschlichen Miteinander, Freude, Vergnügen, Askese und Gleichheit, Gewalt, Rebellion, Sünde und Vergebung, Angst vor dem Sterben, alle diese Begriffe sind aus dem Leben gegriffen und ergeben ein Buch für das Leben, dessen gewissenhafte Lektüre das Leben des Lesers bereichern können sollte.

Der studierte Soziologe Erich Fromm (1900-1980) hatte seine geistigen Wurzeln im jüdischen Talmud und in der „Kritischen Theorie“ der „Frankfurter Schule“, welcher bekanntlich so illustre Köpfe wie Herbert Marcuse, Theodor Adorno und Max Horkheimer angehörten. Und erlangte Fromm in späteren Jahren auch primär als kritischer Psychologe Weltgeltung, so blieb er doch stets seiner neomarxistischen Gesinnung aus Frankfurter Zeiten treu, insbesondere als scharfsichtiger Diagnostiker der Grundlagen des modernen Gesellschaftscharakters. Fromm erkannte diesen Gesellschaftscharakter als von Habens-Orientierung geprägt. Seine marxistische Weltbetrachtung erachtete das menschliche Individuum als Melange gesellschaftlicher Verhältnisse, was gegenständlich bedeutet, dass sich der Einzelmensch in Anpassung an die im gesellschaftlichen Rahmen vorherrschenden Normen und Wertmuster ebenso am Haben orientiert, wie die Gesamtgesellschaft. Unter postkapitalistischen Lebensverhältnissen sei der Marketing-Charakter der dominierende soziologische Typus, welcher sich selbst als Ware und den eigenen Wert als „Tauschwert“ erlebe. Es liest sich deprimierend doch ebenso plausibel, wenn Fromm schreibt: „Der Erfolg hängt weitgehend davon ab, wie gut sich ein Mensch auf dem Markt verkauft, ob er im Wettbewerb gewinnt, wie anziehend seine „Verpackung“ ist, ob er „heiter“, „solide“, „aggressiv“, „zuverlässig“ ist.“ Kritische Gedanken wie diese sind heute selten geworden und eine wahre Wohltatl für jedermann, der der These von der Selbstentfremdung des Menschen und von der Dominanz des allumfassenden Warencharakters, als für den Menschen wertbestimmend, zumindest partiell zustimmen kann. Und weiter stichelt Fromm mit gnadenlosem Scharfsinn auf die Illusion selbstgewisser Souveränität des Gegenwartsmenschen ein: „Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: Ich bin so, wie du mich haben möchtest.“
Man merkt, der Marketing-Charakter vermarktet sich nicht nur im rein ökonomisch-beruflichen Sinne, sondern er trägt in allen zwischenmenschlichen Belangen sein Fell zu Markte. Die Gesetze des Marktes, also das Spiel von Angebot und Nachfrage, Konkurrenzverhalten, die Praxis der Manipulation von Gefühlen, all das bestimmt den Alltag des Menschen und hat einen Typus zur Folge, der – im Sinne des Marxschen Begriffs des „entfremdeten Charakters“ – seiner Arbeit, sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur entfremdet ist. Und weiter führt Fromm dazu aus, von der Marxschen Sozialphilosophie zur wissenschaftlichen Seelenkunde fortschreitend: „In der Sprache der Psychiatrie könnte dieser Charaktertyp als schizoider Charakter bezeichnet werden, was nur insoweit etwas irreführend ist, weil einem solchen Schizoiden, der mit anderen (ebenso) Schizoiden zusammenlebt, gute Leistungen erbringt und Erfolg hat, aufgrund seines schizoiden Charakters das Gefühl des Unbehagens völlig abgeht, das einen schizoiden Charakter in einer sogenannten normalen Umgebung (für gewöhnlich) befällt.“

Wie bereits erwähnt, erachtet Fromms marxistische Weltbetrachtung das Individuum als Melange gesellschaftlicher Verhältnisse, was gegenständlich bedeutet, dass sich der Einzelmensch in Anpassung an die im gesellschaftlichen Rahmen vorherrschenden Normen und Werte ebenso am Haben orientiert, wie es die Gesamtgesellschaft schon tut. Natürlich handelt es sich hierbei um krankhafte Gesellschaftsbedingungen, doch wer sich an diese anpasst, der gilt als erfolgreich („Erfolg als Anpassungsleistung“!) und wird innerhalb des gesellschaftlichen Sinngefüges – bei dauerhafter Entsprechung – auch einen entsprechenden Sinn vermittelt erhalten; also sodann meinen, ein gleichermaßen Erfolg wie Sinn bringendes Leben zu führen.

Der Seelenarzt steht somit vor dem eigentlich unlösbaren Dilemma, dass es sich bei dem Neurotiker um den Idealtypus einer neurotischen Gesellschaft handelt, dessen Heilung diesen zwangsläufig in einen dramatischen Widerspruch zum herrschenden Gesellschaftsgefüge bringen muss (was ein unglückliches Bewusstsein zur Folge hat), weshalb er – aus eigentlich sehr praktischen Erwägungen - gegen seine Heilung Widerstand leistet und weiterhin an seinem neurotischen Verhaltensmuster, trotz des damit verbundenen Leidensdrucks, festhält.

Zum Ausklang des Buches bemüht sich Erich Fromm über etwa – je nach Ausgabe – immerhin vierzig Seiten um den Entwurf eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaft, befasst sich mit den Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und den Wesensmerkmalen des neuen, am Sein orientierten, Menschen, sowie den Wesensmerkmalen der neuen Gesellschaft, welche eine Seins-orientierte Gesellschaft sein wird. Fromm präsentiert eine sozialwissenschaftliche Studie („Liebesskala“ nach Maccoby), die bei aller Unzulänglichkeit doch darlegt, dass zu jener Zeit nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung hochentwickelter Gesellschaften eine tendenzielle Seins-Orientierung aufwies, woran sich bis heute wohl nicht allzu viel geändert haben dürfte. Das Ergebnis der Studie ist jedenfalls einfach nur deprimierend, weil demnach schöpferisch anregende Menschen, beseelt von tiefem Interesse am Leben, eine statistisch kaum wahrnehmbare Größe darstellen. Der deprimierenden Diagnose folgt ein ganzer Katalog von Vorschlägen zur nötigen Behebung der festgestellten Misere, wobei Fromm insbesondere auch die Einführung eines garantierten Grundeinkommens fordert, als unumgängliche materielle Voraussetzung für die Verwirklichung gesellschaftlicher Freiheit zum Sein. Eine Forderung, die auch heute wieder zu regen Diskussionen führt, dabei aber leider so gut wie nicht von politischen Verantwortungsträgern aufgegriffen und zwecks Realisierung weiter entwickelt wird. Es gilt bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass diesbezüglich dringender Handlungsbedarf besteht. Der humanistische Protest darf auch nach Fromms Ableben im Jahre 1980 nicht verstummen, muss und sollte vielmündig fortgetragen werden.

Erich Fromms 1976 veröffentlichtes Buch „Haben oder Sein“ erregte schon im Jahr seines erstmaligen Erscheinens, weit über die Fachwelt hinaus, reges Interesse und verdient es wohl heute mit Fug und Recht als einer der Sachbuchklassiker schlechthin bezeichnet zu werden. Übrigens ein Sachbuchklassiker, den man mittlerweile als fixen Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons zu erachten hat und welcher, wegen der darin vermittelten gleichermaßen tiefgründigen wie lebensnahen Erkenntnisse, dazu geeignet ist, die Besonderheiten realen menschlichen Lebens in dieser Welt verständlicher zu machen, und darüber hinaus nicht zuletzt ein Wegweiser zu einer erfüllteren Daseinsweise sein kann.


(Harald Schulz; 8. Juli 2002) 


Erich Fromm: "Haben oder Sein"
dtv, 1998. Broschiert. 215 Seiten.
ISBN 3-4233-6103-4.
ca. EUR 8,-. 
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