Heimito von Doderer: "Die Strudlhofstiege"


Gemeinsam mit dem Folgewerk "Die Dämonen", dieses jedoch an Popularität (soferne hievon überhaupt die Rede sein kann) klar übertreffend, ist der im Jahre 1951 entstandene Roman "Die Strudlhofstiege" das Chef d'oeuvre Heimito von Doderers. Doderers Erzählstil ist hierin zum Inbegriff einer fernab jeglicher Nostalgie zeitlosen Welt geworden.

Natürlich ließe sich einwenden, dass Wien, wie nahezu alle anderen Städte auch, zu einer stinkenden, abgasverseuchten Verkehrshölle verkommen ist, in der es weder Doderer noch seine Protagonisten auch nur einen Tag ausgehalten hätten, natürlich haben die ökosozialen Auswirkungen nicht nur, aber vor allem des Neoliberalismus gerade die von Doderer bevorzugt geschilderten Stände, das Großbürgertum und das niedrige bis höhere Beamtentum arg zerzaust, letzterem geradezu den Garaus gemacht, dennoch - das von Doderer geschilderte Bild ist weit aktueller geblieben als etwa die Welt Schnitzlers oder die der Tante Jolesch. Das mag sicherlich generell auch daran liegen, dass sich das Leben in den um die Jahrhundertwende entstandenen bzw. gewachsenen Teilen der Vorstädte und Vororte Wiens weniger geändert hat als etwa in der zur stil-, geist- und im Grunde funktionslosen "City" degenerierten Inneren Stadt, dass von Doderer bevorzugte großbürgerliche, Wien-nahe Sommerfrischen wie Payerbach oder der Semmering trotz aller umwelt- und kulturzerstörerischen Aktivitäten einer hysterischen, völlig außer Rand und Band geratenen "Wirtschaft" eher noch dieselben geblieben sind als von Geschichte ausgelöschte bzw. nachhaltig veränderte (wie etwa Böhmen mit Karlsbad) bzw. völlig der kommerziellen Barbarei anheimgefallene Regionen (man denke nur an bestimmte vor allem Tiroler, aber auch Kärntner Alpengegenden). Mag der Pöbel massenhaft Griechenland, die Türkei oder die Malediven überschwemmen - Payerbach und sein Publikum sind hievon, abgesehen von dem allerorts, und in an sich ruhigeren Orten umso mehr zu registrierenden Verlust der Stille - über der Rax lässt der Flugzeuglärm den Himmel lauter als anderswo dröhnen - noch relativ wenig betroffen.

In erster Linie jedoch ist die konstatierte Zeitlosigkeit des u.a. in der "Strudlhofstiege" vermittelten Ambientes auf Doderers dichterisches Genie zurückzuführen, das eben mit feinstem Gespür das Wesentliche der geschilderten Welt, eben darum den Anfechtungen durch den Zeitablauf weniger unterliegend als vergleichsweise schrilles Vordergründiges, offenlegt und stringent darstellt. Diese Konstanten im Wesen Wiens sind nun in der Tat schwierig zu beschreiben. Festzuhalten bei Doderers wichtigsten Figuren ist jedenfalls ein durch und durch bourgeoises Element, das fest in sich ruht und auf den ersten Blick unspektakulär bis langweilig wirkt. Gerade dieses Korsett streng genormter Bürgerlichkeit hat Doderer offenbar immer wieder zu geradezu brachialen Ausbruchsversuchen animiert, seine groteske Gewaltverherrlichung in Kurzgeschichten oder im Roman "Die Merowinger" legt dafür beredtes Zeugnis ab. In der "Strudlhofstiege" kann von derlei natürlich nicht die Rede sein, hier wird vielmehr so etwas konstituiert wie der Doderersche "Normalfall". Tatsächlich benötigt Doderer auch in der Strudlhofstiege sehr lange, diese "normale" Welt vor dem Leser auszubreiten und eine interessierende Handlung in Gang zu setzen. Dann aber stellt sich jedoch durchaus etwas ein, mit dem der Leser bis dahin nicht gerechnet bzw. auf das er jede Hoffnung bereits aufgegeben hat: Spannung kommt auf. Das bisher mühsam zu lesende Buch kann nur mehr schwerlich aus der Hand gelegt werden.

Die Strudlhofstiege ist fernab jeglicher Klischees in der Tat ein überaus Wienerisches Werk. Die spezifisch Wienerische Kultur, sei es im Kulinarischen, Literarischen oder Musikalischen vermeidet alles Grelle, Aufdringliche, Vordergründige. Schon die Stadt Wien ist weniger monumental und malerisch gelegen als Prag oder Budapest, der Barock zu Wien etwa ist weit zurückhaltender als in Bayern und Böhmen, der Rokoko konnte hierorts nie richtig Fuß fassen. Auch die Wiener Küche, egal ob Schweinsbraten, Apfelstrudel oder Kaiserschmarren, schmeckt nicht eben aufregend, vermeidet extreme Geschmacksnuancen , kennt ebensowenig Chilischärfe wie extreme Süßlichkeit. Gleiches gilt für die Schrammelmusik: Sie ist nicht wirklich zündend, keineswegs annähernd so temperamentvoll wie die Musik unserer östlichen Nachbarn, aber auch nicht so kraftstrotzend-derb wie die Folklore des Alpenlandes.

Dies alles ist der Nährboden für Doderers große Romane wie die "Strudlhofstiege", für deren Figuren und Handlungen. Letztere mit all ihren überraschenden Wendungen wiederzugeben, verbietet sich natürlich. Gleichermaßen sinnlos erschiene, über Doderers Genialität auch nur zu diskutieren, weshalb die Neuauflage des dtv nur Anlass für obige allgemein gehaltene Reflexionen sein konnte.

(Franz Lechner; 08/2002)


Heimito von Doderer: "Die Strudlhofstiege"
Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck. 908 Seiten.
ISBN 3-4063-9896-0.
ca. EUR 34,90.
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Taschenbuch:
dtv. 909 Seiten.
ISBN 3-423-01254-4.
ca. EUR 15,-.
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