Martin Morgenstern, Robert Zimmer: 
"Denkwege der Philosophiegeschichte"


Philosophiegeschichte zelebriert sich für gemeinhin als ein Paradieren geistbegabter Köpfe im Ablauf der Zeit. Nicht so bei Martin Morgenstern und Robert Zimmer. Wie der Buchtitel bereits erahnen lässt, geht es dem Autorenduo weniger um eine Perpetuierung des - zuweilen fast schon peinlich berührenden - Kults um populäre Figuren (oder auch nur Kunstfiguren) aus zweitausendfünfhundert Jahren intellektueller Virtuosität, denn vielmehr um jene Strömungen des Denkens, in welche Einzelpersonen wie ganze Schulrichtungen eingebettet agierten. Dass trotz der Prioritätensetzung zu Gunsten des Denkens der Bezug zu den Heroen philosophischer Denkart nicht zu kurz kommt, ist als besondere Stärke des Buches hervorzuheben. Durchaus plastisch moduliert vermittelt sich das Element der dominanten Persönlichkeit über den Kunstgriff thematisch eingeflochtener Kurzbiografien. Aristoteles und Platon, Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Ludwig Wittgenstein, wie denn auch Karl Raimund Popper, um nur einige zu nennen, verdienen natürlich sämtlich eine besondere Würdigung ihrer Person wie ihres epochalen Schaffens. Diesem (über ihre herausragenden Leistungen für die Menschheitskultur) erworbenen Anspruch auf Exklusivität wird, wie gesagt, hinreichend entsprochen.

Zweieinhalb Jahrtausende westlicher Philosophiegeschichte skizzieren sich als eine Historie der Widersprüche und der Irrtümer, der Annäherung an Wahrheit und des Verrats von Wahrheit, und insofern, wie überhaupt gerade deswegen, als eine Geschichte des Fortschritts im Sinne von kleinen "Fort-Schritten". So ist denn auch das vorliegende Buch ein "Buch der Hoffnung", das darauf baut auf den Denk-Wegen voranzukommen und im Leser eine Ahnung von diesem Optimismus zu erwecken, auf dass in ihm und durch ihn jener Prozess seine Fortsetzung findet, der im antiken Griechenland einst seinen Anfang nahm.

Eine Orientierung an manifesten Denkfiguren kontinentaleuropäischer Lebensart hat sich zwangsläufig chronologisch darzustellen. Morgenstern und Zimmer illustrieren wiederholt dieses sich selbst (in mehrfacher Hinsicht) aufhebende Entfalten von Ideenwelten im Zeitenstrang. So etwa am Beispiel der Ethik, welche als Suche nach einem rational begründbaren Fundament moralischen Handelns umschrieben werden kann. Hatte Ethik in der Antike noch als Bezugspunkt die Vorstellung eines vernünftig geordneten Kosmos (wonach "naturgemäßes" Handeln gefordert war), so thronte im Mittelalter Gott als steuernde Instanz über dem irdischen Geschöpf (und forderte von ihm Konformität mit christlicher Tugend). In der Neuzeit erhebt die Ethik den Menschen zum Maß aller Dinge, was die ökologische Kritik des ausgehenden 20. Jh. zuletzt als anthropozentrische Anmaßung verwerfen mag.

Die Ausführungen der beiden Buchautoren über die Wege gehobenen Denkens enthalten sich im Großen und Ganzen einer allzu kritischen (im Endeffekt destruierenden) Betrachtungsweise. Zur Darstellung kommt schlicht und einfach das was ist und das was war. Es wird weder verurteilt, noch beurteilt. Das Urteil zum jeweiligen Denkansatz möge jeder Leser in Ausübung der Kraft seines souveränen Verstandes für sich alleine fällen. Allerdings beschleicht den Leser doch bei der einen oder anderen Stelle im Buch der Verdacht, dass subjektive Wertschätzung den Willen zur bloßen Wissensvermittlung überlagert. Ein launischer Aspekt, der nicht immer jedermanns Fall sein mag, doch insgesamt der Lektüre Leben einhaucht.

Ausgerechnet zur Person des immer noch außerordentlich populären Künstlerphilosophen Friedrich Nietzsche kommen im Text kritische Anmerkungen zum Tragen (unterschwellig oder offen? Das mag jetzt strittig bleiben.), die an anderer Stelle nicht in dieser Deutlichkeit zu vernehmen sind. So kommt es in Nietzsches Schriften nach Meinung der Autoren zu einer folgenreichen Aufwertung der triebhaft-irrationalen Kräfte. Und dieses triebhafte Wollen sei mehr als ein bloßes Streben nach Selbsterhaltung, es sei viel mehr ein "Mehr-haben-Wollen" und ein "Einfluss-nehmen-Wollen", kurz: ein Wille zur Macht. Die Ablehnung aller metaphysischen oder religiösen Jenseitsvorstellungen brächte Nietzsche auf die Formel: "Gott ist tot". Und dann weiterführend resümieren die Autoren über den toten (gewissermaßen aber untoten) Philosophen, jetzt als Textzitat: "Nietzsches Philosophie gipfelt in der Forderung nach der Züchtung eines 'Übermenschen', eines Wesens, das ohne religiöse Hoffnungen auskommt und seine natürlichen schöpferischen Kräfte zur vollen Entfaltung kommen lässt. Im Zeichen der Förderung des Lebens nimmt Nietzsche damit auch eindeutig Partei für die Starken und Mächtigen." (Ende des Textzitats)
Dem beifügend wird konstatiert: "Nietzsche entfaltete eine verhängnisvolle Wirkung im Faschismus des 20. Jahrhunderts."
Das dargebrachte Beispiel deklariert die subjektive Wertung eines umstrittenen jedoch beliebten Philosophen mit zweifelhafter Wirkungsgeschichte. Die Interpretation der Terminologie Nietzsches mag in der Weise von Morgenstern und Zimmer umstritten sein, zumal zum Beispiel "Gott ist tot" von anderen Nietzschekennern eher als Diagnose einer nihilistischen Kulturverfasstheit denn als militante Ablehnung aller metaphysischen oder religiösen Jenseitsvorstellungen ausgelegt wird. Und ein Gilles Deleuze warnte schon in seinem 1965 publizierten "Nietzsche Lesebuch" vor dem Missverständnis, den "Willen zur Macht" als "Wunsch zu herrschen" oder "die Macht zu wollen" zu verkennen, und die "Mächtigsten" in einer Gesellschaft mit den "Starken" in der Lesart Nietzsches zu verwechseln. Nichtsdestotrotz ist Morgensterns und Zimmers Auslegung der Philosophie Nietzsches durchaus legitim, vertretbar und zulässig, zumal eine objektive Fassung seines unsystematischen Denkens schlichtweg unmöglich scheint. Was unter anderem zur Folge hatte, dass der deutsche Philosoph von den unterschiedlichsten Strömungen vereinnahmt wurde. Seine Betonung des instinktiven, triebhaften Lebens befruchtete in etwa die Seelenkunde eines Sigmund Freud, den die Autoren der besprochenen Philosophiegeschichte als herausragenden Philosophen zu schätzen wissen, dessen Psychoanalyse nicht nur das philosophische Menschenbild revolutionierte, sondern über neomarxistische Denker wie Herbert Marcuse oder Erich Fromm Eingang in die Gesellschaftstheorie fand.

Philosophische Fragestellungen haben in ihrer Wirkungsgeschichte die Welt des Irdischen und Jenseitigen erklärt und verklärt, solcherart Wahrheit begründet und ergründet. Die diesem Prozess inneliegende Problematik lässt sich nur erahnen und ist in ihrer Erhellung zugleich ein vertraut Werden mit konkreter Alltagswirklichkeit wie denn auch ein wunderbares Abenteuer im Kopf. "Denkwege der Philosophiegeschichte" führt zu den Ursprüngen kritischer Daseinsbetrachtung zurück und lehrt daher kommend Formen gegenwärtiger Weltanschauung aus ihren jeweiligen Werdensgeschichten heraus zu begreifen. Ein einführendes, also hinführendes doch deswegen keinesfalls triviales Buch zur Selbsterkenntnis des denkenden Menschen. Und somit ein Leckerbissen für eingefleischte "Freunde der Weisheit" wie denn auch für jene, die den Vorsatz zur gedanklichen Vertiefung ihrer Weltgeworfenheit schon des Längeren in sich tragen, doch bis jetzt der damit verbundenen Mühen noch scheuten. Das Werk der beiden Publizisten Martin Morgenstern und Robert Zimmer widerlegt nämlich auf ein Neues die althergebrachte Mär von der allemal ungebührlich anstrengenden Befassung mit Philosophie.

(Harald Schulz; 04/2004)


Martin Morgenstern, Robert Zimmer: 
"Denkwege der Philosophiegeschichte"
Artemis & Winkler, 2003. 288 Seiten.
ISBN 3-538-07166-7.
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