Gert Ueding: "Wilhelm Busch"

Das 19. Jahrhundert en miniature


Die Welt als Sein und Schein, als Wille und Vorstellung

2007 zählt auch schon zur Jubiläumsarithmetik, da Buschs Geburtsjahr exakt 175 Jahre zurückliegt, aber 2008 ist wohl das bedeutendere Busch-Jahr, denn sein Todestag jährt sich zum hundersten Male. Und so brachte der Herbst 2007 natürlich eine Reihe von Biografien auf den Markt, von Kiepenheuer & Witsch, vom Aufbau-Verlag und die vorliegende Ausgabe von Insel aus dem Hause Suhrkamp.

Gert Ueding ist Germanist und Inhaber des Lehrstuhls für Rhetorik an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Bereits 1977 erschien die erste Auflage seiner Werkbiografie Wilhelm Buschs, die durchgesehen und erweitert nun 30 Jahre später wieder das Angebot erweitert.

So mag der Autor den Wilhelm Busch mit einem Zitat aus dem Vorwort selbst einführen: "Wilhelm Busch gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts und zu den unbekanntesten Eckenstehern der deutschen Literaturgeschichte. Das hat viele Gründe. Der Literaturhistoriker hielt ihn für einen begabten Zeichner und Maler, der nebenher Verse und etwas Prosa geschrieben hatte; der Kunsthistoriker sah in ihm einen humoristischen Schriftsteller, der zugleich ein geschickter Illustrator seines Werkes war, wohl auch etwas in Öl dilettiert, dies aber in selbstkritischer Einschätzung aber nie publik gemacht hat. Außerdem galt Erfolg als verdächtig [...]"

Leben und Werk historischer Personen lassen sich erst dann einordnen, wenn die politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Zeit bekannt sind. Doch gerade das 19. Jahrhundert dürfte wohl die komplexeste Epoche zu sein, welche die neuere deutsche Geschichte zu bieten hat. Eingezwängt zwischen Aufklärung und Idealismus am unteren Ende und Nationalismus und Wahn am oberen, zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, wird es charakterisiert mit Begriffen wie Klassik, Romantik, Biedermeier, Vormärz, Realismus, Naturalismus, ohne dass einer dieser Begriffe der Wahrheit wirklich nahe kommt. Und außerdem teilte eine Religionsgrenze das Land, die durchaus verschiedene Charaktere hervorzubringen wusste, wie es Max Weber erkannte und beschrieb.

Das 19. Jahrhundert in Deutschland war stärker noch als das 18. geprägt von einer gesellschaftlichen Spannung, die sich in den Wirren von 1848/49 Bahn brach; doch von wenig Erfolg beschienen, wie wir wissen. Statt mit Gesprächsangeboten antwortete man auf die aufmüpfigen Bürger mit Kartätschen: mit einem Schuss dieser Splitterartillerie konnte man einen kompletten Trupp Aufständiger zum Stillstand bringen. Nach dieser revolutionären Episode waren wieder Ruhe und Ordnung erste Bürgerpflicht. Doch die neuen Gesellschaftsbilder englischer, holländischer und französischer Provenienz saßen längst in den Köpfen des aufgeklärten Bürgertums und gärten. Auch die zunehmende Industrialisierung verschärfte Druck und Zerrissenheit der Gesellschaft. Die Ruhe geriet zur Scheinruhe eines Spießerbürgertums, ständig in Gefahr, durch Kleinigkeiten aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Und genau das ist das Szenarium, das Buschs Opus durchzieht wie ein roter Faden. Der Untertitel "Das 19. Jahrhundert en miniature" erhält erst vor diesem Hintergrund seine so treffenden doppeldeutigen Konturen.

Und genau hier tritt der große Vorzug des vorliegenden Buches zu Tage, denn der Autor vermag ein stimmiges und kompetentes Bild jener Epoche zu zeichnen, bei dem man sich als Leser wünscht, nicht in dieser Zeit in einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen zu sein. So heißt es auf Seite 30: "Die protestantische Anthropologie beruht auf der Überzeugung vom Menschen als einem sündigen, ungehorsamen, ja wilden Tier, das durch Schwert und Gewalt zu züchtigen sei, damit die Welt nicht im Chaos versinke. [...] Da die Kinder aber, nach lutherischer Auffassung, ohne Erziehung 'eitel wilde Tiere und Säue in der Welt (bleiben), die zu nichts nutze sind, denn zu fressen und saufen' (Dr. Martin Luthers Pädagogische Schriften und Äußerungen), ist jede erzieherische Maßnahme ein Dressur- und Unterwerfungsakt." Und diesem Dressurakt ist man entweder gewachsen oder nicht. Es entstehen massenweise starke Biografien, die letztlich Träger der industriellen Revolution in Deutschland werden (siehe Max Webers "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus"), aber auch Versager, die dem Druck nicht gewachsen sind und abspringen - wie Busch.

In Hannover sollte Wilhelm Busch Maschinenbau studieren, aber er flüchtete 1851 nach vier Jahren über Düsseldorf nach Antwerpen, auf den Spuren der Kunst. Doch die großen Meister der Niederlande und hier insbesondere Frans Hals ließen in ihm die traurige Überzeugung reifen, dass er dieses Niveau nicht erreichen werde, nicht erreichen könne. Ab 1854 lebte er in München in Künstlerkreisen - allerdings stets mit Bodenhaftung - und reüssierte mit kleineren Arbeiten. Doch es zog ihn zurück in seine Heimat, hinter seinen Ofen, zurück in eine Welt, die soviel Ähnlichkeiten mit dem hatte, was er als Spießertum so treffend karikierte. "Es ist Buschs Methode geblieben, alles Ängstigende, Furchterregende, Anmaßende tanzen zu lassen, es in seinen komischen Verrenkungen vorzuführen und ihm so jede furchteinflößende Wirkung zu nehmen." (Seite 42)

Es herrscht in der Pädagogik des 19. Jahrhunderts das Recht des Stärkeren vor, nur vordergründig um Rechtfertigung bemüht. Die Kinder scheitern - wie Max und Moritz - oder werden dressierte Musterschüler. Im Ergebnis erwachsen sie zu angepassten Spießbürgern, die streng dem Schnittmuster ihrer Eltern folgen. Das ist der augenzwinkernde, aber resignierte Tenor vieler Geschichten Wilhelm Buschs. Kleinbürgerliche Scheinidylle, doch der Alltag wird zielsicher durch die Tücke des Objekts zum Schlachtfeld.

Wilhelm Busch beherrschte die Kunst, mit wenigen Strichen und wenigen Worten die Züge des Lebens einzufangen. Die Welt als Sein und Schein, als Wille und Vorstellung, Schopenhauers Kulturpessimismus streng folgend.

Fazit
Wie bereits angedeutet wurde, enthält dieses Buch eine äußerst kompetente Präsentation der Grundströmungen dieser so komplexen Zeit des 19. Jahrhunderts. Doch die biografischen Elemente werden nach und nach ausgeblendet, bis in einem Nebensatz eine Italienreise erwähnt wird, die nicht von Erfolg gekrönt gewesen sein soll. Was da passierte, erfährt man allerdings nicht. Einzig eine späte München-Reise findet noch Eingang in das Buch. Doch da soll sich Busch rund fünfzigjährig so tüchtig danebenbenommen haben, dass sich die Neugierde auf weitere biografische Aspekte verflüchtigt.

Man lernt sehr viel über das 19. Jahrhundert und über Buschs Werk, aber - abgesehen von den ersten vielleicht 25 Jahren - nur indirekt etwas über Busch selbst. Es wird auch nicht behauptet, dass es sich um eine Biografie handelt, das Wort Werkbiografie prangt auf dem Umschlagstext.

Den optimalen Nutzen wird der erhalten, der dieses Buch neben einer lebensnäheren Biografie liest und den Busch in seiner Zeit erfahren und vertiefen möchte. Das Lesen zweier Biografien zu einer historischen Person ist ohnehin eine gute Idee.

Aufmachung und Verarbeitung folgen dem hohen Verlagsstandard. Viele Zeichnungen Buschs illustrieren textnah das Thema, am Ende finden sich einige Werke Buschs im Farbdruck. Anmerkungen, Zeittafel und Personenregister runden das handwerklich perfekte Werk ab.

(Klaus Prinz; 12/2007)


Gert Ueding: "Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature"
Erweiterte und revidierte Neuausgabe. Mit zahlreichen Abbildungen.
Insel, 2007. 429 Seiten.
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Weitere Buchtipps:

Eva Weissweiler: "Wilhelm Busch. Der lachende Pessimist. Eine Biografie"

Eva Weissweiler, die Chronistin von Clara Schumann, Tussy Marx und der Familie Freud, erzählt das Leben von Wilhelm Busch vor dem Hintergrund seiner Zeit.
Wilhelm Buschs Geschichte von "Max und Moritz" gehört zu den beliebtesten Bilderbüchern der Welt; Busch gilt als der Erfinder eines neuen Mediums, als der geniale Urvater des "Comics". Auch seine beißenden Satiren wie "Die fromme Helene" oder "Plisch und Plum" erheitern viele Menschen bis heute und bereichern ihren täglichen Zitatenschatz mit Sprüchen wie "Wer Sorgen hat, hat auch Likör" oder "Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr". Dem eigenen Ruhm hat der Krämersohn aus dem niedersächsischen Wiedensahl aber nie recht trauen wollen. Dem Vorbild der alten niederländischen Meister nacheifernd, malte er unzählige Ölbilder, um sie nie irgendwo auszustellen. Wer den wahren Busch kennen lernen wolle, meinte er, müsse seine Gedichte und Prosatexte lesen, die von der Presse allerdings gnadenlos verrissen wurden. Verbittert zog er sich aus der Münchener Bohème-Szene in die tiefste Provinz zurück.
Über den einsamen Junggesellen aus Wiedensahl wird bis heute gestritten: War er ein Menschenfeind, Menschenkenner, gläubiger Christ, Atheist, Anhänger Schopenhauers, Vorläufer der Psychoanalyse, Anarchist, Antisemit, Futurist oder ein Spötter mit bedenklich sadistischen Neigungen? Busch war ein Kind der Kaiser- und Bismarckzeit, hält die Autorin fest, gleichwohl hielt er dem 19. Jahrhundert den Spiegel vor und karikierte den Ungeist der rassistischen Ausgrenzung und der Dressur - "typisch deutsche", in Wahrheit aber archetypische Zwänge, die in Peking so instinktsicher verstanden werden wie in Berlin. Und im Herzen blieb er zeitlebens das antiautoritäre Kind - das Vorbild für "Max" war sein Jugendfreund, der Müllersohn Erich Bachmann, und "Moritz", das war er selbst. (Kiepenheuer & Witsch)
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Gudrun Schury: "Ich wollt, ich wär ein Eskimo. Das Leben des Wilhelm Busch"
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Seine Zeichenkunst nimmt den "Comic" vorweg und beeinflusste Walt Disney, seine Gedichte und Erzählungen sind das Gegenteil biedermeierlicher Behaglichkeit, in seinem malerischen Spätwerk stößt er zum Expressionismus vor. Aus ungewöhnlicher Perspektive schaut Gudrun Schury dem Künstler in die Karten. Sie fragt nach Buschs Verhältnis zu den Frauen, zu den Kindern, zu den Tieren, zum Tabak- und Alkoholkonsum ("Jetzt raucht er wieder, Gott sei Dank!"). Sie verfolgt den Weg seiner Bilder vom Bleistift über den Holzstich bis aufs bedruckte Papier. Sie betrachtet Prügelszenen und Todesarten seiner Figuren. Und sie befreit den populären Zeichner und Versemacher von Vorurteilen. Nur eines bestätigt sich am Ende: Wilhelm Busch bleibt einzigartig. (Aufbau-Verlag)
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