Kevin Brooks: "Martyn Pig"


Der erfolgreiche Erstling "Martyn Pig" des inzwischen zu literarischem Ruhm gelangten englischen Jugendschriftstellers Kevin Brooks ist very British, indeed.
Es fällt einem schwer sich vorzustellen, dass er aus der Feder eines deutschen Jugendbuchautors stammen könnte. Pädagogische Bedenken aller Art hätten ihn wahrscheinlich davor bewahrt, solche Themen in ein Jugendbuch aufzunehmen:
die schonungslose Beschreibung eines trostlosen Säufer-Milieus, in dem der halbwüchsige Martyn aufwächst; die wenngleich unbeabsichtigte Tötung des eigenen Vaters; die detailliert ausgestaltete und sich über Tage hinziehende Beseitigung der bereits übel riechenden Leiche; die Verwischung der Spuren nach allen Regeln der Kunst; dazu noch eine gehörige Prise schwarzen Humors - das alles ist harter Tobak für ein Jugendbuch.
Das ist aber längst nicht alles. Ausgerechnet der einzige Lichtblick in all der Düsternis, das hübsche Nachbarmädchen Alex, der einzige Mensch, dem Martyn vorbehaltlos vertraut hat, entpuppt sich als kaltblütig und gewissenlos. Sie, die Martyn vermeintlich bereitwillig und ohne an Gefahr und eigenes Risiko zu denken, bei der Beseitigung des toten Vaters geholfen hat, geht im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen, um ihr egoistisches Ziel, Schauspielerin zu werden, zu erreichen. Sie verschwindet spurlos mit der 30 000 Pfund-Erbschaft, die Martyns Vater noch kurz vor seinem Tode gemacht hat, und schreckt nicht davor zurück, den Konkurrenten Dean aus dem Weg zu räumen.
Noch fragwürdiger ist Martyns Bekenntnis zur Lüge als Überlebensgarantie: "Alles, was du bei den Polizeiverhören tun musst, ist bei dem zu bleiben, was du schon vorher gesagt hast, und wenn irgendwas Heikles zur Sprache kommt, kannst du dich einfach nicht mehr erinnern. Und wenn du im Zweifel bist, sag gar nichts." (S. 282) Seine Ansichten sind von Misstrauen und Fatalismus geprägt: "Da siehst du, es ist völlig egal, was die Polizei glaubt, es ist auch egal, was sie weiß, alles, was zählt, sind Beweise. Wenn sie etwas nicht beweisen kann, kann sie auch nichts tun. Sie kann einpacken. So ist es nun mal, so läuft es. Das ist Gerechtigkeit." (S. 281)
Man könnte manchmal glauben, hier würden Jugendliche auf dem Weg in die Kriminalität noch nützliche Ratschläge erhalten. So aber ist es keineswegs. Durchgehend ist Martyn glaubwürdig als Opfer seiner kläglichen Lebensumstände und seiner dumpfen familiären Situation dargestellt. Das beginnt schon bei seinem Nachnamen, der ihn zum Gespött anderer Kinder macht : "Wörter tun weh. Porky, Piggy, Pigman, Oink, Bacon, Stinky, Porker, Grunt …Möchtest du vielleicht Fettsack, Schweinchen, Schweinemann, Speck, Stinker, Mastvieh oder Grunz heißen? " (S. 8f.) Die Benachteilung setzt sich fort bei seinen engsten Bezugspersonen, seinem Vater und dessen Schwester, mit denen wahrlich kein Staat zu machen ist. Dennoch behauptet Martyn ihnen gegenüber tapfer seine erwachende Individualität.
"Sein Vater" sah aus, wie das, was er war: ein Trinker. Dicker kleiner Bauch, rot geäderte Haut, gelb verfärbte Augen, hängende Wangen und ein großer wulstiger Nacken. Alt und verbraucht mit vierzig." (S. 11) Dazu ist er primitiv, schmutzig, verlogen, unberechenbar, hinterhältig und gewalttätig. Ein Vater, den ein Kind nur verachten und hassen kann. Auch seine Tante Jean ist eine Witzblattfigur: "Eine furchtbare Frau. Stell dir die schlimmste Person vor, die du kennst, und nimm alles mal zwei - was du dir dann ausmalst, kommt immer noch nicht ran an Tante Jean. Um die Wahrheit zu sagen, ich halte es kaum aus, sie zu beschreiben. Rasend ist das Wort, das einem zuerst einfällt. Verrückt, hässlich und rasend. Eine knochige Frau, kalt und hart, mit blauem Kraushaar und einem Gesicht, das einen schaudern lässt. … Ihr Mund ist schmal und rot wie ein englischer Briefkasten, den ein geistig gestörtes Kind gemalt hat. … Sie bewegt sich wie eine Jägerin, leise und flink, auf ihre Beute fixiert. Früher hatte ich Alpträume von ihr." (S. 11)
Alles in allem ist Martyn ein zwar introvertierter und illusionsloser, aber ein doch aufgeweckter, nachdenklicher, fast braver Junge, der seine vorhandenen Anlagen unter günstigeren Verhältnissen prächtig entfaltet hätte. Doch in dem engen Milieu, in dem er aufzuwachsen gezwungen ist, geht es in erster Linie ums eigne Überleben. Zwar glaubt er, selber Entscheidungen treffen zu können, doch ist er letztlich immer nur das Opfer anderer. "Das ist wieder diese geheimnisvolle Musik, der unsichtbare Flötenspieler. Er spielt, wir tanzen - was geschieht, geschieht." (S. 155)
Es ist aber nie der unsichtbare Flötenspieler. Immer sind es andere Menschen, die Macht oder Gewalt ausüben oder die Fäden ziehen. Das ist auch Martyns bittere Erkenntnis, als er - viel zu spät - den heimtückischen Plan der hübschen Alex durchschaut.
Ungewollt entlastet Martyn mit seinen unausgegorenen Ansichten sogar noch Alex´ Gewissen. In einem Brief, den sie ihm ein Jahr nach den Ereignissen aus dem sonnigen Kalifornien schreibt, zitiert sie ihn mit seinen eigenen Worten: "Du hast mir mal erzählt, dass Schlechtsein etwas Relatives ist - du hast gesagt, etwas ist nur dann falsch, wenn man glaubt, es ist falsch, solange man es selbst für richtig hält und andere halten es für falsch, ist es nur dann falsch, wenn du erwischt wirst." (S. 286)

Zum Schluss bleibt offen, ob es sich bei dem Buch um den ersten Roman Martyns handelt, der davon träumte, Krimischriftsteller zu werden.
In dem in den Epilog eingefügten Brief fordert Alex Martyn nämlich auf: "Du solltest dich also besser beeilen und bald deinen Krimi schreiben, von dem du mir erzählt hast, den, wo ich die Geliebte des Mörders spiele. Denn wenn du noch lange brauchst, werde ich zu berühmt sein, um in dem Film mitzuspielen - dann kannst du mich nicht mehr bezahlen! … Ich bin sicher, du schaffst es, dir eine Geschichte auszudenken."
Soll das ein Ansporn sein, damit sich beide wiedersehen können? Auch das bleibt offen. Auch der Anfang des Romans deutet nur an: "Schwer zu sagen, wo ich anfangen soll. … An das Meiste erinnere ich mich sowieso nicht mehr. Sind alles nur Schnipsel von Dingen, die vielleicht, vielleicht auch nicht passiert sind - Bilderfetzen, vage Gefühle, verblichene Fotos von namenlosen Leuten und vergessene Orte - solche Sachen." (S. 7)
Damit verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion noch stärker und machen die düsteren Geschehnisse des Romans erträglicher.

Ein sehr lesenswerter Roman, der jugendliche wie erwachsene Leser zum Nachdenken über den Zusammenhang von Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, Ausgeliefertsein und Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit anregt, aber keine endgültigen Urteile fällt.
Man muss nicht gleich dem enthusiastischen Superlativ des Klappentextes - "ein Thriller … auf höchstem literarischen Niveau" - folgen:". Auf jeden Fall ragt der Roman weit über den Durchschnitt von Jugendromanen hinaus.

(Diethelm Kaminski; Köln, den 17.03.2004)


Kevin Brooks: "Martyn Pig"
dtv extra 70866,
288 S., ca. EUR 8,50
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