Klaus-Rüdiger Mai: "Die Bronzehändler"

Eine verborgene Hochkultur im Herzen Europas


Bronzezeit in Mitteleuropa - eine zu Unrecht unterschätzte Kultur

Hochkulturen werden vor allem über das Vorhandensein einer Schrift definiert, wie sie beispielsweise die Sumerer und die Ägypter besaßen. Folglich sind die Völker und Traditionen der europäischen Bronzezeit nicht als Teil einer Hochkultur anzusehen. Warum eigentlich? Die bronzezeitlich-europäischen Gesellschaften waren anders organisiert als jene des fruchtbaren Halbmondes, deren komplexer Aufbau die Schrift als Mittel zur Verwaltung zwingend notwendig machte. In Europa gab es kleinere, eher lose Verbände von Bauernfamilien, denen ein "Großer Mann" vorstand, dessen Funktion als Magier, als Priester ihm eine Vormachtstellung verlieh. Während der Bronzezeit hatten die Schmiede diese Position inne; die Gewinnung von Metall aus Erz und die "Stoffumwandlung" der Metalle Kupfer und Zinn zur goldähnlichen Bronze hatte etwas sehr Mystisches, geradezu Göttliches, das bis heute in vielen alten Sagen fortlebt. Da die Schmiede ihre Stellung auszubauen wussten, erhielten sie von den Bauern bald Lebensmittel im Austausch gegen den Segen der Götter. So entstand eine teilweise arbeitsteilige Gesellschaft, ähnlich wie bei den Kulturen des fruchtbaren Halbmondes, denn der "Große Mann" war nun nur noch Priester und übte die Schmiedekunst allenfalls zu kultischen Zwecken aus, während "normale" Handwerker Gebrauchsgegenstände, Waffen und Schmuck aus Bronze herstellten. Es entwickelte sich ein reger Handel; mitteleuropäische Bronzeprodukte waren begehrt und wurden weithin exportiert, zuweilen bis nach Ägypten. Zurück kamen nebst Handelsgütern immer wieder auch neue Techniken und religiöse Ideen: Die Menschen der Bronzezeit kannten das Phänomen der Globalisierung.
Immer, wenn es zu einer Stagnation kam, bewirkten Anstöße von außen Umstürze und sprunghafte Weiterentwicklungen. Wer sich den veränderten Umständen nicht anpasste, verschwand umgehend. Archäologische Funde künden von "natürlichen" Katastrophen, aber auch von kriegerischer Gewalt.

Klaus-Rüdiger Mai hat ein ungewöhnliches Sachbuch verfasst. Er nähert sich der rätselhaften Hochkultur, deren Zeugnisse zu einem erheblichen Teil noch unentdeckt unter unseren Füßen verborgen sind, vor allem über Mythen sowie religiös begründete Sitten und Gesellschaftsstrukturen an, die sich überall in der Alten Welt ähneln. Funde lassen sich auf diese Weise nachvollziehbar interpretieren, durch Fundstücke belegte Entwicklungen werden schlüssig und verständlich.
Der Autor nimmt uns mit auf eine Zeitreise: Er spinnt plausible Lebensgeschichten um fiktive Figuren aus bedeutsamen Abschnitten der Bronzezeit von ihren Anfängen bis zum Ende. Auf die Fiktion folgen die ihr zugrunde liegenden Fakten. Sein Ziel, dem Leser die bronzezeitlichen Mitteleuropäer - unsere Vorfahren - und ihr wirtschaftliches wie auch religiöses Umfeld näher zu bringen und aufzuzeigen, was uns auch heute noch mit dieser hoch entwickelten Kultur verbindet, erreicht er mit dieser Methode auf sehr spannende und unterhaltsame Weise, auch wenn nicht immer völlig klar ist, wo die Grenze zwischen dem wissenschaftlich Belegbaren und der freien Ausschmückung verläuft. Zuweilen wundert man sich über eigentlich unnötige inhaltliche Wiederholungen.
Der Stil ist angenehm unkompliziert und passt sich dem Wechsel zwischen halb fiktiver Erzählung und Sachtext gut an. Eine sorgfältigere Durchsicht, vor allem bezüglich der Kommasetzung, hätte allerdings nicht geschadet.
Das Buch enthält eine Reihe von Farbfotos und viele Schwarzweiß-Abbildungen von bedeutsamen Fundstücken, archäologischen Ausgrabungsstätten, rekonstruierten Gebäuden und Gräbern etc. Schade, dass ein Bild der umstrittenen Himmelsscheibe von Nebra fehlt, der ein langer Abschnitt gewidmet wurde. Von den anderen besprochenen Funden und Orten hingegen findet man textnah Abbildungen.
Insgesamt ein sehr ansprechendes Buch mit einem interessanten und durchaus überzeugenden didaktischen Ansatz, das dem Leser einen tiefen und umfassenden Einblick in die Welt unserer Vorfahren vor mehreren tausend Jahren gibt und verdeutlicht, dass Mitteleuropa zu dieser Zeit keineswegs in einer Art Dornröschenschlaf rückständig vor sich hindämmerte, sondern kulturell hochstehende Gesellschaften beherbergte mit komplexen, hauptsächlich an Mond und Sonne ausgerichteten religiösen Vorstellungen, ausgeprägten sozialen Gefügen, aus denen ein wahrlich globaler Handel und Techniktransfer erwuchs, und den erwähnten geschickten, in der ganzen damals bekannten Welt geschätzten Handwerkern. So wird ein zu Unrecht wenig beachtetes Thema der Archäologie auch für Leser ohne Vorkenntnisse spannend und unmittelbar erfahrbar.

(Regina Károlyi; 06/2006)


Klaus-Rüdiger Mai: "Die Bronzehändler"
Campus, 2006. 224 Seiten.
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Dr. Klaus-Rüdiger Mai studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Halle-Wittenberg. Er arbeitete als Regisseur und Autor für das Theater, bevor er Rundfunkautor wurde. Seit vielen Jahren ist er als Drehbuchautor, Dramaturg und Produzent für Fernsehproduktionen verantwortlich.

Weitere Bücher des Autors:

"Michail Gorbatschow. Sein Leben und seine Bedeutung für Russlands Zukunft"

Er zählt auch Jahre nach dem Mauerfall zu den größten Sympathieträgern: Michail Gorbatschow. Doch bis auf die Zeit an der Spitze der Sowjetunion ist wenig über sein Leben bekannt - obwohl er einer der bedeutendsten Menschen der jüngeren Geschichte ist und seine Biografie ein Gleichnis für die Entwicklung Russlands.
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