Wolfgang Johannes Bekh:
"Anton Bruckner. Biographie eines Unzeitgemäßen"


Das Wort "Dilettant", also etwa "der sich Ergötzende", hatte in der Goethezeit noch nicht den heutigen negativen Beischmack, der es in die Nähe von "Stümper" rückt. Der Autor Wolfgang Johannes Bekh, beruflich ehemals Schauspieler, Journalist und Schriftsteller, ist zweifellos ein Dilettant, ein "Amateur" im Sinne von "amare", dessen Triebfeder zum Schreiben dieses Buches die Liebe zum beschriebenen Gegenstande, also zu Anton Bruckner war. Und das ist auch gut so.

Herausgekommen ist also eine groß angelegte, 500-seitige Liebeserklärung an Person und Werk Bruckners, die in weitgehend gelungenem Stil sein Leben in einer Vielfalt von Facetten vor uns aufbreitet. Gleich vorweg, da ohnehin nicht übersehbar, zu den Schwächen dieses Buches, vorrangig in der Darstellung des musikalischen Bereiches gelegen, worin sich der Autor wahrlich als "Dilettant" im "modernen", also negativen Sinne erweist. Abgesehen vom ersichtlichsten Übel, statt einigermaßen konkreter Werkbeschreibung in einen heutzutage längst überwundenen, schwülstigen, weihrauch-"durchtränkten" Irrationalismus zu verfallen, passieren dem Autor grobe Schnitzer sozusagen am laufenden Band, was sich am peinlichsten im häufigen Verwechseln der Symphonien manifestiert. So wird etwa auf Seite 409 im Rahmen der Besprechung der VIII. Symphonie ein - durchaus interessanter - Kommentar Max von Oberleithners über "das Adagio" wiedergegeben, der inhaltlich unbestreitbar vom Adagio der IX. Symphonie handelt. Die berühmt gewordene Frage Otto Dessoffs, wo denn "das Thema" beginne, bezog sich, wie jeder geübte Brucknerfreund weiß, nicht auf die Zweite, sondern auf die sogenannte "Nullte" Symphonie und ergibt auch nur bei Letztgenannter aufgrund deren scheinbarer Substanzlosigkeit Sinn. Bruckners Aussage über die Simultanität von Leben und Tod, getätigt anlässlich der Aufbahrung des Dombaumeisters Schmidt, als aus dem Nachbarhause Tanzmusik erklang, betraf das Finale der Dritten, in welchem tatsächlich Choral und Polka (siehe dortiges Gesangsthema) gleichzeitig erklingen und nicht, wie auf Seite 382 behauptet, das der VIII. Symphonie. Umso gravierender erscheinen diese Irrtümer, als sie nicht nur die Unkenntnis von allzu bekannten Anekdoten, welche durchaus über Schallplattenhüllenkommentare nicht hinausgehendes Allgemeinwissen darstellen, sondern auch Unkenntnis der beschriebenen Werke belegen. Letzlich scheint auch die abstruse Titulierung der VI. Symphonie als "Glaubenssymphonie" auf eine Verwechslung mit der "Fünften" zurückzuführen sein, zumal diese Bezeichnung in der ersten Hälfte des vergangen Jahrhunderts tatsächlich häufig für Letztere verwendet wurde (und dies bei aller Bedenklichkeit derartiger Attributisierungen mit weit besseren Gründen als für die "Sechste"). Ansonsten folgt Bekh bei seinen "Werkbeschreibungen" weitestgehend der berühmten, wie nicht anders zu erwarten ohnehin nicht allzu tiefschürfenden "Volksausgabe" Auers; Abweichungen von ihr oder eigenmächtige Ansichten tun dem Buch nicht gut.

So steht beispielsweise, nur um einen der zahlreichen Fehler zu erwähnen, das Finalthema der VI. Symphonie durchaus (wie Auer richtig schreibt) in phrygischer und keineswegs (nur etwa weil auf f'' beginnend?), wie auf Seite 247 behauptet, in lydischer Tonart. Noch ärgerlicher aber keineswegs verwunderlich erscheint, dass hinsichtlich des Finales der "Neunten", also des unvollendeten 4. Satzes, in Ignoranz gar nicht allzu jüngster Forschungsergebnisse, nur von "Skizzen", überdies "in fünffacher Fassung" (Seite 456) die Rede ist und die Existenz der fragmentarisch überlieferten, dennoch extrem bedeutsamen Partitur verschwiegen wird, dies leider ganz im Einklang mit der herrschenden öffentlichen Meinung, weshalb es die Pflicht jedes aktuellen Bruckner-Biographen wäre, schon um eine Änderung der Aufführungspraxis und damit eine Repertoireerweiterung um ein höchst faszinierendes Stück Musik in der Dauer von (auch im fragmentarischen Zustande) über 20 Minuten zu bewirken, auf diesen schon über ein Jahrhundert alten Irrtum hinzuweisen und zu einer Bewusstseinsänderung des Konzertpublikums beizutragen.

Negativ fällt desweiteren die nahezu wörtliche Übernahme von Zeilen, ja ganzen Absätzen aus den Bruckner-Büchern von Karl Grebe (Anton Bruckner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, rowohlt, Hamburg 1972), Mathias Hansen (Anton Bruckner, reclam, Leipzig, 1987) und vor allem Auer auf, zumal jeglicher Zitierhinweis fehlt. (vgl bloß beispielhaft Seite 173 mit Grebe Seite 83 hinsichtlich Bruckners trister Situation nach der völlig missglückten Uraufführung der Dritten).

Vom musikalischen Desaster, dem glücklicherweise kein allzu großer Raum zugemessen ist, einmal abgesehen, handelt es sich dennoch um ein sehr geglücktes Buch mit einer Fülle an bislang der breiteren Leserschaft unbekannten biographischen Details. Dass Bekh die Anekdote nicht verschmäht, überrascht aufgrund des bisher Gesagten wohl kaum. Positiv anzuführen ist jedenfalls ein sehr behutsamer Umgang damit. So wird Erinnerungsberichten (natürlich ist die Grenze zur Anekdote fließend) entschieden der Vorzug eingeräumt. Von bedeutsamen Ereignissen, wie Bruckners erstem Bayreuth-Besuch anlässlich der Widmung seiner Dritten, werden die erhaltenen Erinnerungsberichte systematisch gegenübergestellt und betreffend Glaubwürdigkeit verglichen. Wenn auch Bruckners Intervention an den Kaiser um Schutz vor Hanslick nicht fehlen darf, so bleiben doch platte, unglaubwürdige Anekdoten glücklicherweise unerwähnt; Bruckners Leben bot ja ohnedies jede Menge an kuriosen, vergleichsweise gut bezeugten Erlebnissen, teilweise zwerchfellerschütternd, mitunter tragi-komisch bis tragisch. So erfährt der Leser z.B., wie es kam, dass Bruckner erklärte, "zum Leidwesen der Weltgeschichte" auf den bulgarischen Fürstenthron zu verzichten, wie der Versuch Hanslicks endete, seine Nichte mit dem ewigen Junggesellen Bruckner zu verkuppeln, warum Besucher von St. Florian vermeinten, nach Bruckners Tod diesen durch die Stiftsgebäude stolzieren zu sehen, oder aufgrund welcher Vorkommnisse Bruckner sich einmal genötigt fühlte, den Gebrüdern Schalk mit Polizeigewalt zu drohen.
Für Biertrinker besonders interessant ist die minutiöse Schilderung der Biergewohnheiten Bruckners; sie erfahren denn auch die Antwort auf die Frage, warum Bruckner nicht nur ausschließlich "Seiteln" bestellte, sondern die Trinker von "Halben" als geradezu zurechnungsunfähig ansah (hingegen bleibt Bekh uns die Begründung des nicht minder faszinierenden Faktums schuldig, warum Bruckner stets nur eine ungerade Anzahl von Seiteln leerte - möglicherweise einfach deshalb, weil es keine Begründung gibt).

Von der Vermittlung einer derartigen Detailfülle abgesehen, liegt die Bedeutung dieses Buches in der Konstituierung eines umfassenden Brucknerbildes, dessen eingangs erwähnter Facettenreichtum bisher m.E. von keinem Autor erreicht wurde. Zu loben ist in diesem Zusammenhang auch die glückliche Bildauswahl, welche den Leser nicht nur mit dem ausdrucksvollen Gesicht der von Bruckner verehrten Marie Bartl erfreut (leider fehlt ein Bild der Verlobten Ida Buhz), sondern ihm auch den Anblick der enorm mitleiderweckenden letzten Aufnahme (die bekannten späten Brucknerbilder entstanden sämtlich vor dem Krankheitsausbruch Ende 1894) nicht erspart: Bruckner als erschreckend ausgemergelte KZ-Gestalt auf seinem zukünftigen Totenbett. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte! Die entsetzliche Todeskrankheit samt aller unaussprechlichen Leiden wird so weit besser als in allen Krankheitsberichten im wahrsten Sinne des Wortes veranschaulicht. Dass dieses höchst bedauernswerte menschliche Wrack noch imstande war, das grandiose Final-Fragment der Neunten zu schaffen, bleibt unfassbar.

Der größte Vorzug von Bekhs Buch liegt in dem Umstand, dass der Autor nicht nur den Menschen Anton Bruckner, sondern auch dessen geistige Prämissen, also die klerikale Determiniertheit, welche von vielen, vor allem jüngeren Autoren bedauert bis belächelt wird, ernstnimmt, sich geradezu in Bruckners Denken hineinversetzt, wodurch die geschilderte Gestalt enorm an Schlüssigkeit und Stringenz gewinnt. Dabei kommt Bekh in wohltuender Unterscheidung von u.a. Göllerich-Auer u.a. ohne jegliche Glorifizierung aus. Völlig zurecht zuerkennt Bekh Bruckners Nekrophilie, von den meisten Autoren nur als Kuriosum am Rande erwähnt, zentrale Bedeutung und verschont den Leser auch hiebei nicht mit zum Teil geradezu erschreckenden Details, was auch für andere dunklere Bereichen gilt. Überhaupt muss gesagt werden: Bruckner hat die Grenze zum Irrsinn wiederholt und nicht nur in der allerletzten Zeit beträchtlich überschritten, wie auch sein Umfeld im bestürzenden Maße von Irrsinn und Geisteskrankheit betroffen war: Schon seine Mutter zeigte alle Anzeichen religiösen Wahns, sein Bruder Ignaz wird vielfach als debil bezeichnet, seine Freunde und Weggefährten Ignaz Dorn und Hugo Wolf, ja selbst seine treue Haushälterin Kathi Kachelmayer endeten in Irrenanstalten, sein Lieblingsschüler, der ungemein begabte Hans Rott, starb in geistiger Umnachtung. Bei der Darstellung des Milieus, in welchem Bruckner sich bewegte und seine Verrücktheiten entwickelte, zeigt Bekh ebenfalls viel liebevolle Ausführlichkeit, was ebenfalls zur Nachvollziehbarkeit des Beschriebenen nicht unwesentlich beiträgt. Subjektive Anmerkungen und meist konservativ-resignative Ausblicke auf die Gegenwart schaden dem Werk keineswegs. "Die Kirche ist heute aller Kunstwerke entblößt, ehrlicher zu sagen wäre: 'ausgeräumt', erschreckend haben klerikale Aufklärer gewütet. Ihr Erfolg: Putzfrauenästhetik, blitzende Sauberkeit, Öde des Fortschritts, in der kein Tod mehr Platz hat. Ansfeldens riesiger Pfarrhof ... steht leer. Was braucht man noch ....das 'Ego te absolvo', ... wenn ohnehin alle in den Himmel kommen?" Ob man diese durchaus bedenkenswerten Worte (Seite 26) nun teilt oder nicht, sie zeugen von der heutigen Distanz zu Bruckners Welt, und des Autors Einfühlungsvermögen in diese (nebenbei handelt es sich natürlich auch um einen gelungen Seitenhieb auf die gerade in Bruckners oberösterreichischem Raum exzessiv betriebene barbarische Verunstaltung von Landkirchen nach dem zweiten vatikanischen Konzil).

Sehr interessant und dankenswerterweise detailgetreu ist auch Bruckners Verhältnis zu Frauen beschrieben, auch hier fernab von allem Despekt und Mitleid. Hier erwarten den Leser Erkenntnisse, die vom bisher tradierten Brucknerbild teilweise entschieden abweichen. Bruckners sexuelle Situation war bei weitem nicht so trostlos wie angenommen; so absurd und hoffnungslos seine Werbungen auch schienen, seinem Ziel, nämlich der Heirat mit einem hübschen, blutjungen Mädchen kam er mehrfach sehr nahe und scheiterte stets an eigenem Unvermögen bzw an eigener Untätigkeit im entscheidenden Moment. Fast erweckt es den Anschein, als habe sich sein Schaffenstrieb im Unbewussten durchgesetzt, um der Gefährdung seiner Komponistenlaufbahn, welche eine junge, wahrscheinlich relativ unverständige Ehefrau bedeutet hätte, einen Riegel vorzuschieben. Diese dadurch notwendig gewordene sexuelle Enthaltsamkeit (außerehelichen Verkehr verbot sein Katholizismus) wirkte sich wieder quasi compensando modo fruchtbar auf sein Schaffen aus. So auch im Falle der reizenden 17-jährigen Marie Bartl aus Oberammergau, die er 1880 (also im 56. Lebensjahre stehend!) anlässlich eines Besuchs der Passionsspiele (sie spielte eine Statistenrolle) kennenlernte, sofort über Vermittlung seines Hauswirtes ansprach, nach Hause begleitete (Schüchternheit zählte in diesem Zusammenhang nicht zu seinen Untugenden), wo er ihr nach Vorstellung bei ihrer Mutter ("I bin da Professor Bruckner aus Wean und bin dn Koasa sei Organist"- als Komponist war er damals noch völlig unbekannt) umgehend einen Heiratsantrag machte, der erstaunlicherweise ernst genommen wurde. Es scheint, als habe Marie sich in ihn tatsächlich verliebt. Aber nach drei Tagen vielversprechenden Zusammenseins sich (selbstverständlich allein!) auf die vorgesehene Schweiz-Reise zu machen, "damit das teure Reisebillet" nicht verfiel, war denn doch ein starkes Stück an Knauserei! Er hat Marie nie mehr wieder gesehen. Die Brieffreundschaft dauerte noch etwa ein Jahr an; wie es zum banalen, und überdies seitens Bruckners völlig kampflosen Ende der "Beziehung" kam, sei an dieser Stelle nicht verraten. Die Marie-Erfahrung fand wohl im äußerst beglückenden Kopfsatz der VI. Symphonie ihren Niederschlag. Marie verweigerte später dem Brucknerforscher Auer die Herausgabe der Bruckner´schen Korrespondenz und verbrannte sie umgehend nachdem der lästige Besucher ihr Haus verlassen hatte. Sie versuchte nie, aus ihrer Freundschaft mit dem später so berühmt gewordenen Komponisten Kapital zu schlagen und verweigerte darüber jegliche Auskunft ("Das geht niemand was an!"). Es scheint, dass Bruckner - wie auch seine noch absurdere Verlobung 1894 (!) mit der 22-jährigen Ida Buhz zeigte - kein schlechtes Auge für Mädchen hatte. "Aber der geniale Mensch hat ebensowenig wie jeder andere Mensch einklagbaren Anspruch auf Liebe, außer es gelingt ihm, Liebe zu wecken. Liebe zu wecken setzt voraus, dass man selber lieben kann. Bei all den Erörterungen über den Eros des Menschen Bruckner wird ... außer acht gelassen, dass er zwar oft verliebt war, jedoch in keinem Fall wirklich geliebt hat. Die tiefe, unausweichliche Bindung an eine und nur eine Frau scheint Bruckner nicht erlebt zu haben, eine Leidenschaft, deren zwingende Gewalt auch die widerstrebende Frau hätte faszinieren und mit dem skurrilen Gebaren des Liebenden versöhnen können." schrieb Grebe so treffend, dass Bekh es auf Seiten 92 f ziemlich wortgetreu übernommen hat. Grebe führt weiter aus: "Unbeantwortbar ist die an die Geheimnisse der Tiefenpsychologie rührende Frage, wo denn bei dem vitalen und seelenhaften Bruckner die große Liebe geblieben ist." Warum Bekh ausgerechnet diesen bemerkenswerten Satz ausgelassen hat, ist nicht ersichtlich.

Was nun die oft beschriebene Feindschaft Bruckners zu den Wiener Kritikern betrifft, so rückt der Autor dankenswerterweise gewisse Dinge wieder zurecht. Vor lauter Streben nach vermeintlicher "Objektivität" verfielen Grebe, vor allem aber Hansen und Manfred Wagner (Bruckner, Mainz 1983) in eine gewisse Betriebsblindheit, die zu beinahe schon unerträglichen Beschönigungen des Verhaltens von "Hanslick et Consorten", so Bruckner im Originalzitat, gemeint also u.a. Kalbeck, Heuberger, führte. Bekh gibt denn auch einige Gehässigkeiten von Hanslick und Brahms wieder, die letztgenannte Autoren wohlweislich verschweigen.

Leider erweist sich das Buch auch im biographischen Teil als schlampig gearbeitet. Ein letztes veranschaulichendes Beispiel für die Fülle an Ungenauigkeiten, ausgehend von Auers Darstellung der Entstehung des langsamen Satzes der "Siebenten": "Drei Wochen vor Wagners Tod konzipierte Bruckner das Thema des Adagios ... In einem Brief an Felix Mottl erzählt unser Meister selbst:"Einmal kam ich nach Hause und war sehr traurig; ich dachte, lange kann der Meister unmöglich mehr leben, da fiel mir das cis-Moll-Adagio ein.'" Soweit Max Auer. Bekh macht daraus folgenden Text: "Drei Wochen vor Wagners Hinscheiden schrieb er [Bruckner] an Felix Mottl: 'Einmal kam ich nach Hause ....' "

Insgesamt dennoch ein gelungenes und empfehlenswertes Buch, dessen offensichtliche Gebrechen in ihrer beinahe schon liebenswerten Skurrilität eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit dem beschriebenen Komponisten Anton Bruckner aufweisen, dessen Absonderlichkeiten seiner Größe keinerlei Abbruch tun und unser Interesse für ihn ja imgrunde nur erhöhen.

(Franz Lechner; 04/2002)


Wolfgang Johannes Bekh: "Anton Bruckner. Biographie eines Unzeitgemäßen"
Lübbe, 2001. 528 Seiten.
ISBN 3-7857-2037-8.
ca. EUR 34,-.
Buch bestellen