Jakob Arjouni: "Hausaufgaben"


Wie geht man mit Schuld um? Eigene Verfehlungen und Unzulänglichkeiten einzugestehen, fällt vielen Menschen unglaublich schwer, im historisch-gesellschaftlichen wie auch im privaten Kontext. Jakob Arjouni wagt sich in seinem Roman "Hausaufgaben" an dieses schwierige Thema heran.

Zentrale Figur des Romans ist der Deutschlehrer Linde. In seinem Oberstufenunterricht entspinnt sich zwischen den Schülern eine provokante Diskussion um den Umgang mit Schuld im Dritten Reich. Von der unerwarteten Eskalation in der Stunde überfordert, versucht Linde einzulenken, zu schlichten, zu belehren. Aber so recht will ihm das nicht gelingen. Deshalb beendet er die Diskussion abrupt, indem er die Schüler schließlich recht ungeduldig mit der Hausaufgabe ins Wochenende entlässt: "Wie kommt Deutschland aus der Naziecke?"

Was Linde zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt: Er selbst wird in den kommenden zwei Tagen Hausaufgaben zum Thema Umgang mit Schuld erledigen müssen. Nur geht es dabei nicht um die Frage nach Kollektivschuld eines ganzen Volkes, sondern um die des Einzelnen: um seine eigene, persönliche Schuld. Ganz konkret. Denn in der Familie des Lehrers bricht an diesem Wochenende die private Katastrophe aus: Seine Tochter wendet sich mit einem harten Bruch von ihrem Vater ab, indem sie Hals über Kopf aus der Familienwohnung auszieht. Der Sohn, sonst der friedliche Moralapostel, schlägt seinem Vater ins Gesicht. Und seine Frau zerrt ihre Privatangelegenheiten hinter Lindes Rücken an die Öffentlichkeit, sodass er sich gezwungen sieht, vor versammeltem Lehrerkollegium über sein peinlichstes Privatleben Rechenschaft abzulegen.

Linde ist schockiert. Wieso wendet sich seine Familie so plötzlich und knallhart gegen ihn? Was ist nur in die drei gefahren? Dabei hat er doch immer nur ihr Bestes gewollt! Linde hat keine andere Wahl, als sich über die Familienverhältnisse Gedanken zu machen. Nach und nach kommen immer mehr Details aus der Vergangenheit zum Vorschein und es wird deutlich, dass in seiner Familie nicht erst seit heute einiges im Argen liegt. Widerstrebend gesteht sich Linde ein, an dem einen oder anderen Punkt ein wenig Mitschuld zu tragen. Aber sofort hält er die passenden Rechtfertigungen und Abwiegelungen parat. Schließlich hatte er immer Gründe für sein Verhalten. Und so schlimm war das alles nun auch wieder nicht, findet er ...

An der Figur des Lehrers Linde zeigt Arjouni sehr exemplarisch, wie schwer es ist, mit der eigenen Schuld umzugehen. Subtil deckt der Autor einen Mechanismus auf, in den sich Menschen angesichts ihrer eigenen Schuld häufig flüchten: den Mechanismus aus Verdrängung, Ausflüchten, Halbwahrheiten und Wunschdenken. Linde ergreift bei seinem Blick in die Vergangenheit stets nur Partei für seine eigene Position - seltsam verhalten sich immer nur die Anderen. Er dagegen sieht sich selbst als Reagierender, als Opfer der zerrissenen Familienbande. Seine Rückerinnerung hinterlässt beim Leser Leerstellen und einen sehr schalen Beigeschmack. Man spürt an vielen Stellen überaus deutlich: Linde will sich eigentlich überhaupt nicht erinnern. Er blockt lieber ab und verdreht die Wirklichkeit. Trotzdem wird klar: Linde hat mehr Leichen im Keller, als er es sich selbst eingesteht. Er hat Schuld! Doch die dunklen Punkte in seiner Vergangenheit hält er gut versteckt. Perfekt verdrängt. So perfekt, dass Linde fast selbst an seine Unschuld glaubt. Sein Ziel ist es nicht, die eigene Unzulänglichkeit und Schuld einzugestehen, sich ihnen zu stellen und sie zu sühnen. Was Linde erreichen will, ist, seine Weste nach außen hin wieder rein zu waschen. Diese Grundhaltung zeigt sich bei dem Lehrer im Privaten wie im Politischen. Denn schon seine Hausaufgabe für seine Schüler lautete nicht "Wie geht Deutschland mit seiner Schuld um?", sondern eben: "Wie kommt Deutschland aus der Naziecke?"

Das Thema Umgang mit Schuld ist nur eines der vielen heiklen Themen, die Arjouni in seinem Roman gekonnt angeht. Es steckt noch so viel mehr in diesem vielschichtigen Werk. Zum Beispiel die Diskrepanz zwischen moralischem Anspruch und tatsächlichem eigenen Verhalten. Man bräuchte noch viele Worte, um all dem gerecht zu werden, was der Autor hintersinnig aufdeckt. Da rate ich doch lieber gleich, das Buch selbst zu lesen. Es lohnt sich!

(Almuth Weinberg; 08/2004)


Jakob Arjouni: "Hausaufgaben"
Gebundene Ausgabe:
Diogenes, 2004. 189 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Diogenes, 2005.
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Der deutsche Schriftsteller, Krimiautor und Dramatiker Jakob Arjouni, geboren am 8. Oktober 1964 in Frankfurt am Main, starb nach schwerer Krebserkrankung im Alter von 48 Jahren in der Nacht auf den 17. Jänner 2013 in Berlin.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Bruder Kemal. Kayankayas fünfter Fall"

Der Frankfurter Privatdetektiv Kayankaya ist zurück: älter, entspannter, abgebrühter - und sogar in festen Händen. Ein Mädchen verschwindet, und Kayankaya soll während der "Frankfurter Buchmesse" einen marokkanischen Schriftsteller beschützen. Zwei scheinbar einfache Fälle, doch zusammen führen sie zu Mord, Vergewaltigung, Entführung. Und Kayankaya kommt in den Verdacht, ein Auftragsmörder zu sein ... (Diogenes)
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