Valerio Aiolli: "Ich und mein Bruder"

Aiollis Ich-Erzähler ist ein ernsthafter, verschlossener Bub im Vorschulalter und die gelungenen Einsichten, die sich daraus ergeben, machen - soviel sei vorweg gesagt - den besonderen Reiz dieses Buches aus.


Die Geschichte, welche die Ereignisse im Verlauf eines Jahres erzählt, beginnt mit des Erzählers erstem Tag im Kindergarten, wo die Sprösslinge Tierlaute nachahmen sollen, der Junge jedoch nur Augen für ein engelsgleiches Mädchen hat, dessen Imitation eines Schafes die beste von allen ist. Ihr "eheheheh" ist einfach unvergleichlich!
Im weiteren Verlauf lernt der Leser Spielkameraden, die Großeltern sowie die Eltern des Knaben kennen. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater ein vielbeschäftigter Lagerhausleiter, der gemeinsam mit seinen Geschäftspartnern ein riskantes Unternehmen, die Errichtung eines großen Mietshauses, plant und ununterbrochen Sorgen deswegen hat. Tischgespräche wie dieses "Du magst ja alle Sorgen dieser Welt haben, aber du kannst doch nicht mit diesem Gesicht nach Hause kommen." "Welchem Gesicht?" "Welchem Gesicht. Diesem Gesicht..." sind daheim keine Seltenheit. Dem Sohn gegenüber stellen die Eltern ihre Streitereien verharmlosend als "Diskussionen" dar und bedenken dabei nicht, wie unmittelbar Kinder Spannungen registrieren. Die von ihrem Ehemann vernachlässigte Mutter und der Vater des Buben verleben ihren monotonen Alltag wortkarg mehr neben- als miteinander, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es schließlich zum Eklat kommt ...

Die Welt der Erwachsenen mit ihren verschwommenen Halbwahrheiten, den unklaren Ausflüchten und ihren immer gleichen Fragen im Stil von "Wie alt bist du denn?", die verschiedene Personen zwar liebevoll, jedoch an ihm vorbei an seine Mutter richten, ist dem Jungen ebenfalls ein Rätsel, bei dessen Lösung er Hilfe braucht. Als die Verstimmung zwischen den Elternteilen beinahe greifbar zu werden beginnt, spürt der Bub eines nachts die Anwesenheit seines Bruders, der bereits lange vor des Erzählers Geburt verstorben ist. Kinder, wie auch Erwachsene, halten mitunter Zwiesprache mit imaginären Kameraden, wenn die von den Mitmenschen vermittelte/gespielte Wirklichkeit zu bedrohlich oder unverständlich wird. Dieser Bruder jedenfalls, der von sich sagt, er sei zu den Engeln geflogen, steht dem Buben erklärend zur Seite und wirkt als Vermittler zwischen den beunruhigenden Gefühlen, der durch diese bedingten Unsicherheit und dem verwirrenden Umfeld.

Kurze Zeit später tritt der Arno im Jahre 1966 über die Ufer, der Großvater stirbt und die Familie droht zu zerbechen: Das Hausbauprojekt entwickelt sich beinahe ebenso wie der gemeinsame Sommerurlaub zum Fiasko, unter anderem weil die Mutter auf der Suche nach Liebe und Abenteuer in die Arme eines der Geschäftspartner ihres Ehegemahls geflüchtet ist, woraufhin dieser Frau und Kind verlässt. Dem Sohn wird gesagt, der Vater habe dermaßen viel Arbeit, dass er auswärts schlafen müsse ... Obwohl die Verwandten nach Kräften bemüht sind, die Wahrheit durch schwammige, vermeintlich schonende Umschreibungen und Lügen vor dem Ich-Erzähler zu verbergen, weiß der Junge stets die Tatsachen richtig zu interpretieren, unterstützt vom Geist seines Bruders. Dieser ist übrigens dem Schabernack nicht abgeneigt, was zu allerlei spaßigen Aktionen führt.

Als die Eltern endlich die Vernunft aufbringen, das Vorgefallene konstruktiv auszudiskutieren und schlussendlich auf einer geläuterten Basis wieder zusammenfinden, verblasst die Gestalt des Bruders immer mehr, bis sie eines Tages vollständig verschwunden ist

Die Geschichte endet damit, dass der Erzähler und seine Mutter am Nachmittag des ersten Schultages die Gräber des Bruders und des Großvaters besuchen.

Valerio Aiolli, im Jahre 1961 in Florenz geboren, ist mit "Ich und mein Bruder", seinem ersten Roman, ein zauberhaftes Werk geglückt, das unerhört einfühlsam, mit sprachlicher Leichtigkeit geschrieben und wunderbar zu lesen ist!

(K. Eckberg; 12/2001)


Valerio Aiolli: "Ich und mein Bruder"
(Titel der Originalausgabe "Io e mio fratello")
Aus dem Italienischen übersetzt von Angelika Beck.
Gebundene Ausgabe:
Pendo-Vlg., 2001. 225 Seiten.
ISBN 3-85842-409-9.
ca. EUR 17,90. Buch bestellen

Taschenbuch:
Reclam Leipzig, 2003. 160 Seiten.
ISBN 3-379-20055-7.
ca. EUR 8,90. Buch bestellen