Erwin Chargaff: "Abscheu vor der Weltgeschichte"

Fragmente vom Menschen

Ein Moralist rechnet ab


Erwin Chargaff, Biochemiker von Weltrang, starb am 20. Juni 2002 im Alter von 96 Jahren. Er war während seines Berufslebens maßgeblich an der Entzifferung des Gen-Codes beteiligt und wurde in späteren Jahren zu einem der kompetentesten Kritiker der naturwissenschaftlichen Forschung. Bezeichnend für ihn war, neben seinem enormen Fachwissen, sein hohes Maß an klassischer Bildung. Dies wird in seinem Buch "Abscheu vor der Weltgeschichte" mehr als deutlich. Das Buch besteht aus fünf Pamphleten gegen den Zeitgeist. In jedem dieser Beiträge werden Chargaffs hoher Intellekt, aber auch seine pessimistische Grundhaltung deutlich.

Über die Liebe zur Wahrheit

Was ist Wahrheit? Der eine sucht die Wahrheit mit dem Kopf und der andere mit dem Herzen. Erwin Chargaff untersucht den Wahrheitsbegriff in unterschiedlichen Wissensbereichen. Nach seiner Interpretation strebt die Naturwissenschaft zwar nach Wahrheit, kann aber nur Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Natur machen. Was Leben ist, kann die Naturwissenschaft nicht beschreiben. Dass sie für viele zu einer Art Religionsersatz geworden ist, schränkt sie eher ein. Da eine Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Experimente wegen der Komplexität der Versuchsanordnungen und der notwendigen technischen Ausstattung schwierig geworden ist, sind unerlaubte Manipulationen insbesondere in der biomedizinischen Forschung nicht ausgeschlossen. Es sind einige Fälle dieser Art bekannt geworden. Wie sieht es mit der Wahrheit in der Literatur und der Kunst aus? Große Werke der Literatur und der Kunst zeichnen sich durch Schönheit aus, nicht durch Wahrheit. Chargaff zitiert Nietzsche, um seine Ansicht zu untermauern: "Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen." Ist die heutige Zeit die verlogenste? Chargaffs Antwort ist eindeutig. Er verweist auf die heutige Multimedia-Gesellschaft voller Reklame und Kommerz.

Über den Hass der Völker

Ein T-Shirt mit der Aufschrift "Kill a Commie for Mommy", das manche Kinder in den USA tragen, ist für Chargaff der Einstieg in das Thema. Handelt es sich hierbei um harmlose Graffiti oder steckt mehr dahinter? Chargaff untersucht die Verhältnisse in seiner Wahlheimat Amerika und entdeckt an vielen Stellen chronischen Hass. Der Hass ist nicht immer eindeutig erkennbar, aber er ist vorhanden. Chargaff dehnt seine Überlegungen auf Europa aus und findet auch hier zahlreiche negative Beispiele. Woher kommt der Hass? Die Ursachen findet Chargaff im Patriotismus (Zitat: "Als der Teufel sich nicht mehr Rat wusste, machte er jedes Volk stolz auf seinen eigenen Misthaufen"), der sich schnell zum Nationalismus entwickeln kann. Er beruft sich auf Goethe, Fichte und Kleist um seine Thesen zu unterstreichen.

Vergeudetes Erbe - Über den Verlust der Tradition

Die Völker haben ihre Erinnerungen verloren und die Menschen wissen nichts. Um diese provokanten Thesen zu begründen, muss Chargaff weit ausholen. Einen Ansatzpunkt findet er im verbreiteten Spezialistenwissen. Es gab noch nie so viele Fachleute wie heute, aber ist damit das Bildungsniveau gestiegen? Bildung, so wie Chargaff sie anhand historischer Fälle erläutert, setzt Wissen in der Breite voraus, Wissen quer durch die Literatur und die Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften. Hieran mangelt es in unserer modernen Zeit. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Unfähigkeit vieler Menschen, ihre jeweilige Muttersprache mit all ihren in Generationen entstandenen Feinheiten zu verwenden. Dieses Traditionsbewusstsein, entstanden aus dem Vermächtnis unzähliger Menschen, gibt es heute nicht mehr. Tradition hat es in Amerika mangels Geschichte nie gegeben. In Deutschland geht die Tradition - aufgrund der Geschichte - verloren. In England und Frankreich sind die Verhältnisse anders. In diesen Ländern ist ein stärkeres Bewusstsein für die eigenen historischen Persönlichkeiten vorhanden.

Abscheu vor der Weltgeschichte

Historiker schreiben Bücher, die zum Vermächtnis ihrer Sprache und der Kultur ihres Landes gehören. Was ist, wenn diese Vergangenheit voller Schande ist? Der Abscheu vor der Weltgeschichte wird am Holocaust besonders deutlich. In Chargaffs Leben hat dieser tiefe Spuren hinterlassen. Was ist, wenn diese dunkle Phase der Geschichte verdrängt wird? Da das Gedächtnis des Volkes nur einen beschränkten Lagerraum für nationale Schandtaten besitzt, werden Verdrängungsmechanismen in Gang gesetzt. Geschichte wird permanent gefälscht, nach dem Motto: Glücklich ist, wer vergisst.

Über den Wissensdurst

Chargaff setzt sich kritisch mit den Grundwissenschaften Physik, Chemie und Biologie auseinander. Die Geschwindigkeit, mit der technische Neuerungen nicht nur in das Wirtschaftsleben der Massen einfließen, sondern auch das Gemütsleben des Einzelnen beeinflussen, ist ein besonderes Merkmal dieser Zeit. Warum sind diese Früchte vom Baum des Wissens tödliche Früchte? Chargaff zitiert Alexander von Humboldt, um deutlich zu machen, dass die Wissenschaft heute längst Grenzen überschritten hat. Hiroshima, Tschernobyl, Bhopal und Seveso sind Beispiele dafür, dass die Menschheit in ihrem Wissensdurst schon viel zu weit gegangen ist. Chargaff zitiert Kierkegaard: "Alles Verderben wird zuletzt von den Wissenschaften ausgehen". Dass die Erde den Menschen nur geliehen wurde, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Gibt es Auswege aus dieser Sackgasse? Wer in einen Wohlstand hinein geboren wurde, von dem unsere Vorfahren nur geträumt haben, kann sich nur schwer dazu entschließen, diesem zu entsagen.

Erwin Chargaff thematisiert Grenzüberschreitungen der Menschheit und führt einen Kampf gegen das Vergessen. Seine Analysen sind messerscharf, und seine Gesamtschau rüttelt an Grundfesten. Da sein extremer Pessimismus keinen Spielraum für eine positive Zukunft lässt, sollte man zu den gleichen Themen auch andere Bücher lesen. 

 (Klemens Taplan; 01/2003)


Erwin Chargaff: "Abscheu vor der Weltgeschichte"
Klett Cotta, 2002. 112 Seiten. 
ISBN 3-6089-3531-2.
ca. EUR 12,50.
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