Péter Nádas: "Schauergeschichten"


Vom Sudern an der Donau zu ganz großer Literatur

Peter Nádas lockt seine Leser in ein ungarisches Dorf der 60er-Jahre. Nördlich von Budapest, auf der großen Donauinsel von Szentendre, lässt das Leben der Menschen Umbrüche erkennen. Der Krieg ist vergangen, der Kommunismus versucht, sich durch Kollektivierung auch in den Dörfern zu etablieren, höhere Schulbildung ist für einige Dorfbewohner schon möglich. Weiterhin bestimmt das bäuerliche Leben den Lauf des Jahres; der Pfarrer predigt – schlecht gehört und kaum verstanden – in der Kirche, am Bahnhof von Vác ist die Erinnerung an Kaiserin Elisabeth noch wach.
Wer das Buch liest, hört ein ganzes Dorf sprechen, doch nicht miteinander, höchstens zueinander oder oft auch ganz allein, zu sich. Das Sprechen im Dorf ist Gewaltanwendung – keine scharfe Klinge, sondern ein ununterbrochenes Sticheln und Würgen, von früh bis spät, werktags wie sonntags. Alle sind Opfer, fast alle Täter.

Der Text zieht sich – ja, manchmal zieht er sich! – ohne Kapiteltrennung und ohne Markierung direkter Rede über fast 600 Seiten. Lesend taucht man ein in ein Gebrabbel, Gemeckere und Gesudere, in ein vielstimmiges literarisches Wimmelbild, durch das Ungesagtes durchdringt, Neid, Habgier, Missgunst und andere Abgründe. Nur einzelne Stimmen ragen aus dem dissonanten Chor heraus, vor allem die der alten Teres Varnagy. Aus einer adligen Familie wurde sie vor Jahrzehnten wegen eines Fehltritts verstoßen, dessen Vorgeschichte, Anlass und Folgen in vielen Dorfgesprächen nachhallen. Nicht weniger boshaft denkt und spricht die aus der Zeit gefallene Vettel über ihre Mitmenschen. Nur um die geistig behinderte Tagelöhnerin Rosa – von der männlichen Hälfte des Dorfs missbraucht, von allen ausgenutzt – kümmert sie sich liebevoll.
Teres, Rosa, Piroschka? Der Übersetzer verzichtet auf die genaue orthographische Wiedergabe des Ungarischen zugunsten des vertrauteren, ununterbrochenen Leseflusses. Nur der protestantische Pfarrer Mátyás Tölösy Tóth wird mit Vor- und Nachnamen in korrekter Schreibung aus dem dörflichen Stimmgewirr zu erheben versucht. "Das Wort kann nicht nur Segen sein, sondern auch Schande" (Seite 59), doziert er unverstanden von der Kanzel und im Kirchhof. "Aber ihr Pfarrer sah sie nur durch die große Brille an, er wusste nichts, verstand nichts. So einen unwissenden Pfarrer hatten sie im Leben noch nicht gehabt." (Seite 61). Dem Gesudere seiner Gläubigen verleiht der in Wien ausgebildete Übersetzer einen teils mit Austriazismen durchsetzten Sprachton, der auch ein paar hundert Kilometer stromaufwärts, in unserem Land, noch passen würde.

Péter Nádas, geboren 1942, beschäftigt sich in seinen Büchern hauptsächlich mit der Situation im kommunistischen Ungarn seiner Jugendjahre, mit den tristen Jahren nach dem niedergeschlagenen und bald verschwiegenen Aufstand von 1956. Das im politischen System hochgelobte Kollektiv verwandelt er in ein kollektives Unbewusstes, das Heldentum des Proletariats in eine Welt triebhafter Dämonen. Seine Schauergeschichten haben eine konkrete Zeit und einen auffindbaren Ort, und doch umgibt sie eine Allgegenwärtigkeit, ein Immer und Überall der menschlichen Niedertracht und des Desinteresses am Anderen. Nur Sprache könnte den Strom lenken. Doch im verstörenden Schauer dieser Geschichte kann sie es nicht.

(Wolfgang Moser; 12/2022)


Péter Nádas: "Schauergeschichten"
Originaltitel: "
Rémtörténetek"
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer.
Rowohlt, 2022. 576 Seiten.

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