Gerhard Roth: "Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe"


Der letzte Teil der "Venedig"-Trilogie: Eine folgenschwere Verwechslung, eine suchende Witwe und die langen Schatten des Superreichen

Auch dieser Krimi-Reiseführer-Roman trägt ein Zitat aus Shakespeares Werk als Titel ("Love is familiar. Love is a devil. There is no evil angel but Love.")
Die Kunsthistorikerin Lilli Kuck folgt in Venedig den Spuren ihres dort tödlich verwundeten Mannes Klemens, eines bekannten und beliebten Bilderbücherverfassers, mithilfe seiner in Spiegelschrift verfassten Notizbücher. Begreiflicherweise befindet sie sich seit Klemens' Tod quasi im Ausnahmezustand, weswegen sie Venedig anders als bei früheren Aufenthalten wahrnimmt. Führte ihr Mann ein Doppelleben? Warum war er in keinem Hotel abgestiegen? Hatte er eine Geliebte? Konnte er seinen leiblichen Vater ausfindig machen? Fragen über Fragen.

"Die Wirklichkeit, dachte Lilli, ist wesentlich komplizierter als jede Wissenschaft und jede Religion. Niemand kennt sich in ihr tatsächlich aus. Alles sind immer nur Deutungsversuche." (S. 153)
Doch allzuviel Zeit zum Grübeln bleibt Lilli vorerst nicht, denn sie wird Zeugin eines Polizistenmords und gerät auch aufgrund ihrer von Zufällen mitbestimmten Nachforschungen nicht nur ins Visier der Ermittler, sondern auch der Gegenseite. Dennoch ergeben sich zahlreiche Museumsbesuche und Besichtigungen, Hotelaufenthalte, Kirchen- und Lokalbesuche, die der Venedig-Liebhaber Gerhard Roth auch in diesem Roman kenntnisreich beschreibt und solcherart ein weiteres Mal die Verlockungen der Serenissima vor dem Leser ausbreitet.

Gekonnt enthüllte Überraschungen bzw. Wendungen, aufschlussreiche Gedankenverläufe und eine überschaubare Anzahl an treffsicher gezeichneten Romanfiguren tragen das Ihre zum flotten Lektüreerlebnis bei.
Egon Blanc, der sonderbare greise Milliardär, sieht sich erstmals von einem potenziellen Nachfolger herausgefordert und verhaspelt sich überdies zunehmend in seinem Kontrollwahn. Die beiden Hauptfiguren aus den vorigen "Venedig"-Romanen sind in Blancs allzu bequemem Spinnennetz hängengeblieben: Lanz übersetzt das Gesamtwerk Shakespeares, Aldrian tritt bei Blanc-Wohltätigkeitsveranstaltungen als Zauberkünstler auf.
Lilli hingegen weiß sich den zudringlichen Vereinnahmungsversuchen zu entziehen, sie vertraut auf ihr Bauchgefühl.
Francesco Galli, aufgrund der unrühmlichen Ereignisse in "Die Hölle ist leer die Teufel sind alle hier" völlig aus der Bahn geworfen, das Möbelhändlerpaar Alberti, Commissario Luca Zacchini, geheimnisvolle anonyme Nachrichten, neue Bekanntschaften und eine Attacke tragen das Ihre zum weiteren Verlauf bei.
Das Ende wirkt, verglichen mit der übrigen Romankonstruktion, hastig hingeschrieben. Die Polizistenmorde werden selbstverständlich aufgeklärt, Klemens' Zwillingsbruder Riccardo und Lilli beginnen einen neuen Lebensabschnitt, und naturgemäß bügelt Blancs Geld wieder einmal nahezu alles platt, nicht jedoch aus.

Gerhard Roth ermöglicht dem Leser auf 244 Seiten ein unterhaltsames Abtauchen in seine Geschichte. Der Roman weist zudem - heutzutage eine wahre Rarität! - nur sehr wenige Fehler auf, z.B. spricht auf Seite 82 "Aldrian", der jedoch gar nicht zugegen ist (sollte "Alberti" sein). Ein wahres Schmankerl ist der Fehler auf Seite 239, wo von "Gans- und Rehkrickerln" die Rede ist. Angemerkt sei auch, dass die wenigen sehr kleinen Schwarzweißillustrationen den Roman nicht unbedingt bereichern.

"Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe" bietet gute Unterhaltung. Rasante Passagen im Wechselspiel mit nachdenklichen, wenn z.B. die fein komponierten, interessanten familiären Hintergründe und Lebensläufe der Romanfiguren einfühlsam dargestellt werden, somit deren Denken und Handeln weitgehend nachvollziehbar werden lassen, oder detailreiche Schilderungen von Venedigs Schönheiten gewissermaßen Verschnaufpausen zwischen den Krimielementen ermöglichen.
Allerdings ist der Abschlussroman inhaltlich weniger reißerisch geraten als die ersten beiden Teile der Trilogie, eine gewisse Kulissenruhe ist in die Szenerie eingekehrt. Das muss kein Nachteil sein ...

(kre; 04/2021)


Gerhard Roth: "Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe"
S. Fischer, 2021. 244 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Gerhard Roth: "Venedig. Ein Spiegelbild der Menschheit"

Wenn der Schriftsteller Gerhard Roth zur Kamera greift, wird sie zur Lupe, die beim Beobachten und Aufspüren hilft. Das anfängliche Hilfsmittel - eine andere Form, Notizen zu verfassen - hat bald den Blick verändert. Mit Bildern lassen sich nicht nur Eindrücke notieren, sondern Kürzestgeschichten, ja ganze Beobachtungsserien anfertigen.So auch in Venedig, dem Sehnsuchtsort vieler, dem Roth seit Jugendtagen verbunden ist und dem er als Literat in seiner virtuosen "Venedig"-Trilogie die Ehre erweist.
Mit diesem Bildband entführt er uns auf eine neue, intime Weise in die Lagunenstadt und öffnet nicht nur "das prunkvolle Schatzkästchen", sondern auch Türen zum Verborgenen.
Gerhard Roth fängt die Magie der Stadt am Lido ein und zeigt uns auch ein anderes Venedig: jenes der geheimen, vergessenen Orte, mit Leidenschaft aufgespürt. Ergänzt werden seine sensiblen Momentaufnahmen durch unveröffentlichte Texte und Miniaturen aus seinen Tagebüchern sowie historischen Fotografien aus seiner Sammlung. (Brandstätter)
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