Das beeindruckende Romandebut der Argentinierin nun auch auf Deutsch
Im deutschsprachigen Raum konnte
man die argentinische Autorin Pola Oloixarac 2016 mit ihrem zweiten Roman "Kryptozän" (spanisch:
"Las constelaciones oscuras") kennenlernen. Nun
liegt auch ihr Erstling, der im
Buenos Aires des Jahres 2008 erschienen ist und für enormes Aufsehen gesorgt hat, in Übersetzung
vor.
Enthusiasmus, Schrecken und aufgewirbelter Staub der
Ersterscheinung sind, auch
ohne ein Kenner Argentiniens zu sein, gut nachvollziehbar. Zum einen begeht Pola
Oloixarac mit offensichtlicher Lust verschiedene Tabubrüche und setzt das Messer sehr
gezielt an heilige argentinische Rinder, zum anderen verfügt sie dabei über eine souveräne
und lustvolle, vieler Register mächtige Prosa in einer selbst für das akademische Milieu, das sie beschreibt
und das wohl einen nicht geringen Teil ihrer Leserschaft ausmachen wird, nicht
unelitären Sprache. Wissend, was sie tut, verbindet sie das Wissenschaftliche
mit dem sehr Menschlichen, lässig wirft sie, als
Metafern und buchstäblich, wissenschaftliche Fachbegriffe ein und bringt etliche
Worte und Zitate im französischen, deutschen, englischen, portugiesischen wie auch
griechischen und lateinischen Original (schließlich befinden wir uns in
geisteswissenschaftlichem Milieu), vielfach ohne die Mühe einer
Übersetzung ins Spanische - verstehst
du's nicht, dann bist du zu oligoglott. Natürlich dient solches Gebaren auch dazu, einen Eindruck
von der
akademischen Atmosfäre und der Denkweise ihrer Repräsentanten zu vermitteln, und freilich ist in der vorliegenden Ausgabe
von ein paar lateinamerikanischen Schlagertiteln, ein bisschen Französisch und Englisch abgesehen alles
brav übersetzt, von Clausewitz und Adorno sind naheliegenderweise im Original
abgedruckt.
Ein bisschen überwältigen wollte
Oloixarac bei
ihrem Debut möglicherweise schon auch, und wenn ja, dann ist ihr dies glänzend
gelungen: überschwängliches Kritikerlob, hohe Verkaufszahlen in der
spanischsprachigen Welt, rasch folgende Übersetzungen und sich
beeindruckt zeigende renommierte Kollegen wie
César Aira und Ricardo Piglia
sind der Beweis.
Weit weniger erfreut zeigten sich indessen viele Moralisten,
manche Universitätsprofessoren und dogmatische Linke, denn ein wichtiges Anliegen der Autorin
war es
offenkundig aufzuzeigen, was im Lande Argentinien, besonders in der linksorientierten Mittelschicht von
Buenos Aires und ganz speziell an der geisteswissenschaftlich-filosofischen Fakultät der
Stadt (an der Pola Oloixarac
übrigens ein Diplom in politischer Filosofie erworben hat) faul oder
einfach nur lächerlich ist; und wie sich das in Lateinamerika oft so
verhält, treffen
etliche der aufgezeigten wunden Punkte teilweise auch auf andere dortige Länder und Regionen mit vergleichbarer
Struktur und Geschichte zu (während die Ähnlichkeiten, was Schattenseiten des akademischen Betriebs betrifft,
deutlich über Lateinamerika hinausgehen).
Die Autorin nimmt ihre Sache polyfon, a quattro voci, in Angriff.
Eine Stimme, die im übrigen auch hinter
den anderen stecken könnte, spricht in erster Person: einer
so hervorragenden wie ehrgeizigen Filosofiestudentin Anfang Zwanzig
sind Notizen einer Universitätsgröße, des Professors Augusto García Roxler, in
die Hände gelangt, die eine umfassende
anthropologische Theorie in erster Ausführung beinhalten. Sie versieht das Konvolut akribisch mit Anmerkungen,
Kritikpunkten und aus ihrer Sicht nötigen Berichtigungen, um derart bewaffnet die Gunst des
Professors bzw. ihre eigene, erst zum großen Erfolg führende Mitarbeit an dem großen Projekt
zu gewährleisten. Doch der Kapazunder erweist sich als zu erhaben für den Frontalangriff einer
jungen Studentin:
"AUGUSTUS: Vertrauen Sie
Ihrer Intuition. Bieten Sie es mir nicht an, und ich
werde es nicht annehmen." (S. 54), und da die Göre nicht gleich
weicht: "(Tatsächlich sagte er einige Dinge, aber,
noblesse oblige, ich schwäche seine Eruption aus Gestank, Speichel und
Poststrukturalismus lieber ab mit einer Dosis gleichermaßen jäh hervorbrechenden
Schweigens)" (S. 56)
So schnell lässt sich die Erzählerin allerdings nicht
abwimmeln, sie ändert ihre Taktik, scheut nicht davor zurück, ihre beachtlichen weiblichen
Reize einzusetzen, ihr Wissen über Kriegskunst aus Klassikern wie aus Büchern über die
argentinische Guerilla zu erweitern, um sich gleich einer professionellen
Agentin, einer sogenannten puella bondinis, systematisch anzupirschen und sich zunächst und lediglich als
Zwischenstation an einen anderen Professor heranzumachen, was diesem nicht nur
zum Segen gereichen wird.
Die Ich-Erzählerin,
welche in einer für häusliche Dramatik und Anspielungsgelegenheiten sorgenden
Wohngemeinschaft mit dem Aquariumfischlein Yorick und der Katze
Montaigne
(Michelle) zusammenlebt, lässt im Verlauf der Handlung ähnlich wie die Autorin des Buches, mit
der sie einiges gemein zu haben scheint, zahlreiche ihrer Muskeln,
intellektuelle, sprachliche, körperliche spielen. Frech und brillant kommentiert
sie den Universitätsbetrieb, belehrt über etymologische Zusammenhänge, äußert ungewöhnliche
Gedanken zu besagter Theorie wie zu manch anderem, verschont sich auch selbst
nicht und verfolgt im Vertrauen
auf ihren starken Willen und ihre intellektuellen Fähigkeiten unbeirrbar ihr
Ziel. Inwieweit das, was sie sich einmal an persönlicher Kritik anhören muss,
ebenfalls auf Oloixarac in ihren Zwanzigern zugetroffen haben mag, kann
gemutmaßt werden:
"Du bist nicht besser als wir, nur weil du dich in nichts
verrannt hast. Dir dringt der Hochmut aus allen Poren. Du hättest damals alles
dafür getan, selber eine kleine Evita zu sein, eine Montonera." (S. 154)
Der letzte Satz führt zu einem zweiten
von der Autorin entwickelten Strang, der Länge nach nicht ganz gleichwertig,
aber wichtig, insofern er eine historische, die Elterngeneration in den
Mittelpunkt rückende
Dimension beisteuert: das Argentinien in den Siebzigerjahren der Montoneros, Peronisten und
ab 1976 der
Militärdiktatur,
harte, unruhige Zeiten, aber auch ein weites
politisch-gesellschaftliches Betätigungsfeld für revolutionär und romantisch
veranlagte junge Menschen.
Aus Dokumenten und Erinnerungen wird das Bild einer
ideologisierten Jugend, die sich auf den linken und rechten Flügel der Peronisten (die 1974
endgültig miteinander brachen), Trotzkisten,
Maoisten und diverse andere Gruppierungen verteilt, entworfen. Zentral dabei das Tagebuch
einer noch als junges Mädchen Verschollenen (die "desaparecidos", die vielen während der Diktatur
Verschwundenen sind ja ein großes, bei weitem nicht zur Gänze aufgearbeitetes Thema
der jüngeren argentinischen Geschichte), welche darin ihr Herz einem
gewissen Moo (unschwer als Mao-tse-tung dechiffrierbar) ausschüttet, dem Kommunistenführer gewissenhaft über
Liebesnöte (bei welchen Gruppierungen man die feschesten Burschen finden kann etc.) oder
sich ergebende Probleme im Zusammenhang mit ihrer intendierten Eigentumslosigkeit
Bericht erstattet. Wie eng
Lächerliches und Leidvolles bei Oloixarac zusammenliegen, führt unter anderem ein
Schüleraufsatz aus, der Massenvergewaltigung der Mütter- bzw.
Großmüttergeneration versatzstücklastig und etwas linkisch zu Papier
bringt, dadurch allerdings Gefühlswallungen und erstmaliges Sprechen über die
eigene Rolle in der dunklen Vergangenheit auslöst.
Das erwähnte
Mao-Mädchen ist (oder
wohl eher war)
übrigens die Tante einer anderen, Kamtchowsky geheißenen Hauptfigur, einer jungen angehenden
Dokumentarfilmerin, ähnlich wie die Ich-Erzählerin dezent über den Dingen stehend, zugleich aber
mitten in ihnen, zumal fleißig Partys und kulturelle Veranstaltungen in der Hauptstadt
besuchend und kräftig mit ihrer Sexualität experimentierend. Kamtchowsky ist,
wie es scheint, zunächst die einzige Freundin des genialisch-einzelgängerischen
Pablo alias Pabst, mit dem sie bei ihren gemeinsamen Streifzügen durch die
Hauptstadt kühne (wenn man will: wilde) Theorien über komplexe gesellschaftliche Strukturen,
das sich verändernde Sexualverhalten und andere interessante Themen aufstellt.
Mit Fortdauer freunden sich die beiden außerdem mit
einem anderen jungen, mehr optischen als intellektuellen Künstlerpaar, Mara und Andy an. Gemeinsam
und hungrig nach künstlerischen Innovationen streifen die vier durch das Buenos Aires
der Erzählgegenwart um die Jahrtausendwende, Pabst bewährt sich bei alledem
in der hohen Kunst des analytischen Ätzens, die auch vor xenofoben Bemerkungen
nicht zurückschreckt:
"Es sind vor allem schlecht ausgebildete
Europäer, die auf der Suche nach kulturell rückständigen Paradiesen auswandern,
um dort ihre Führungsqualitäten entfalten zu können, die sich über ihren urbanen
Dritte-Welt-Snobismus begründen; lokale Demagogen, die sich als Avantgarde
aufspielen, hier, wo es leichter ist ..." (S. 187).
In seinen
pointierten Stellungnahmen fungiert Pabst ähnlich wie die Filosofiestudentin als
Sprachrohr Oloixaracs, die Aperçus und Thesen, die die beiden (wie auch Kamtchowsky) wiederholt aus dem Ärmel
schütteln, sind
meist wohldurchdacht, manchmal vielleicht ein wenig verknappt und überspitzt formuliert,
doch viele dieser
Bemerkungen würden sich durchaus in einem aforistischen Sammelband
bewähren. Noch einmal Pabst, diesmal über das Opfer-Bild der Linken:
"Wenn die Linke im Bereich der Kultur triumphiert, kommt dabei Schlimmeres
heraus als einfach nur schlechte Filme. Wir sehen uns schlechte Filme an, weil
man uns als Zuschauer dazu verdammt hat, zu bürgerlichen Ethnologen unserer
selbst zu werden; unserer selbst mit Blick nach unten. Die in eine
Fabel verwandelte Opfer-Erzählung, das unheimliche Klima, das die Idee von
Hierarchie und Autorität umgibt - Ideen, die man natürlich ablehnen muss - ,
enthält im Kern ein kühles Manöver: Indem wir uns zu Opfern machen, ersparen wir
uns jegliche moralische oder ethische Beurteilung unserer eigenen Taten. Die
Polizeigewalt kommt gerade recht, um diese Taten zu verwischen und automatisch
das unanfechtbare Ganze zu heiligen: das Opfer. So verliert man einen Krieg,
erringt aber den moralischen Sieg auf philosophisch dürftiger Grundlage." (S. 190)
Kamtchowsky steuert neben eigenen originellen Bemerkungen skandalträchtige Sexszenen bei (etwa mit einem Burschen mit Down-Syndrom),
und die amoralische Autorin setzt mit einer Szene, wo die Halbnackte und
Ketaminbetäubte die sich ihr nähernden Männer als wie von Honig angezogene Bären
wahrnimmt, noch eins drauf.
Das Internet
spielt in dieser zukunftsträchtigen Teilgeschichte konsequenterweise eine
äußerst wichtige Rolle: von einem Rückzugsort für frustrierte Jugendliche, wo
sie sich onanierend Erleichterung verschaffen oder in Blogs erste Aufmerksamkeit
erregen können, über ein
relativ komplexes Computerspiel zur den Kämpfen der Siebzigerjahre mit der
Möglichkeit des Seitewechselns, solchermaßen ein interessantes psychosoziales Experiment,
bis hin zu einer großen Party, in der die fünf erwähnten jungen Leute und einige
mehr zusammenkommen, um einen Hackerangriff auf die
Firma Google Earth
zu feiern.
Die vierte Stimme schließlich, quasi der Grundbass, ist die des
Mythos, die großen
Erzählungen, welche die Menschheit insgesamt oder eine Gesellschaft im
besonderen prägen, seien sie
politischer, religiöser, wirtschaftlicher, anthropologischer, historischer,
ontologischer usw. Natur, und obwohl selbst zweifelhaften, oft scheinvernünftigen
Charakters, sehr
kräftig und nachhaltig ins Leben eingreifen.
Oloixarac kommt auf den Vater der von Augusto
viele Jahrzehnte später wiederaufgegriffenen und weiterentwickelten Theorie, den Niederländer van Vliet zu sprechen, der von seinen Assistenten Fodder und Fischer begleitet
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Suche nach den Ursprüngen der
Menschheit nach Afrika aufbrach, sich dort beim
Stamm der Fon ansiedelte, es in seiner Anpassung so weit trieb, bald nackt auf den Bäumen
zu hocken, und in seinem Wissensdurst auch vor lebensbedrohlichen Situationen nicht
Reißaus nahm, im Gegensatz zu seinen beiden Amanuenses, die auf dem Weg zurück
in die moderne Zivilisation auch gleich die Notizen des Meisters - der Ausflug sollte sich schließlich
auszahlen - mitgehen ließen (bzw. sicherstellten, wie der in solchen Fällen
übliche Sprachgebrauch der
Ethnologie
lautet) und darüber, wie mit diesen weiter zu verfahren sei,
natürlich miteinander in Streit gerieten.
Immerhin erschlägt der eine nicht den
anderen, doch ihre Auseinandersetzung - Anpassung an gerade en
vogue befindliche
freudianische Theorien mit der Gefahr der Assimilation oder
nicht - beleuchtet die Entstehungsgeschichte vieler Theorien, gibt einmal mehr Interna des Wissenschaftsbetriebs
dem Spott preis, ohne
dabei zu
karikierenden Methoden greifen zu müssen, und
bezweifelt auch die Zwangsläufigkeit, die vielen siegreichen Theorien im
Nachhinein zugeschrieben wird.
Die egoische Übertragung, wie der Name der
Theorie van Vliets lautet, die in ihrem Kern behauptet, dass am Anfang der
Menschwerdung die traumatische Erfahrung des Beute-Seins steht, mit der diverse
Initiationsrituale, fabelhafte, aus Mensch und Tier zusammengesetzte Mischwesen
und im weiteren natürlich auch der Wille, sich die Erde untertan zu machen,
erklärt werden könnten, wird zwar innerhalb des Romans bei weitem nicht bis zu
einer handfesten Theorie entwickelt, gibt der Autorin und ihrer nicht minder begabten
Studentin aber Gelegenheit zu manch eigener Stellungnahme zur Thematik, nicht
zuletzt des Menschen spezielles Verhältnis zur Gewalt.
Gewalt, Verführung und Ohnmacht spielen auch bei Oloixarac
eine wichtige Rolle, umso auffälliger, dass sich kaum eine Spur von Opfertum in
"Wilde Theorien" findet; ihr Blick auf
Frauen, unschöne oder von einer düsteren Kindheit oder schlimmen politischen
Verhältnissen betroffene Menschen oder Kriminelle aus der
Unterschicht, mit feiner Ironie "die vom Gesellschaftsvertrag Ausgeschlossenen"
genannt, ist immer ein heiterer, über den Dingen stehender, Vergangenes hinter sich lassender aktiver.
Provokation, Dreistigkeit,
Theatralik, Brillanz, Humor,
scharfe Analyse und kluges Denken gegen den Strom, Pola
Oloixarac hat für all dies in ihrem Erstling eine gelungene Mischung von großer Originalität, von ihr selbst als schwarze Komödie bezeichnet,
gefunden.
(fritz; 07/2021)
Pola Oloixarac: "Wilde Theorien"
(Originaltitel "Las teorías salvajes")
Aus dem argentinischen Spanisch von Matthias Strobl.
Verlag Klaus Wagenbach, 2021. 256 Seiten.
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Pola Oloixarac (geboren 1977) studierte
Philosophie
in Buenos Aires, ihrer Heimatstadt. Nach ihrem in mehrere Sprachen
übersetzten Debütroman "Las teorías salvajes", der in Argentinien für Furore
sorgte, wurde sie 2010 auf die Granta-Liste der besten spanischsprachigen
Autoren gewählt. Sie gründete die digitale Zeitschrift "Buenos Aires Review", hat
drei Romane und ein Opernlibretto verfasst und schreibt u. a. für die "New York
Times" und die "BBC". Sie lebt
in Barcelona.