Lutz Seiler: "Stern 111"


Porträt des Künstlers als noch nicht Dreißigjähriger in der Ostberliner Hausbesetzerszene der märchenhaften frühen Neunzigerjahre

"Stern 111 ist etwas, das gut und richtig war im alten, vorigen Leben. Eine Erinnerung für unterwegs. Ein Leitstern für die Reise." (S. 340)

Eines der besten Bücher des heurigen Jahres, soviel kann man gefahrlos schon behaupten, ist der Roman "Stern 111" von Lutz Seiler. Nach seinem Erstling "Kruso" beschäftigt sich auch dieser mit dem Zusammengehen von DDR und BRD und wiederum tut er dies nebenbei, indem er seinen Helden, Carl Bischoff aus Gera, in die Ostberliner Hausbesetzerszene von Ende 1989 bis in die frühen Neunzigerjahre, hauptsächlich aber auf die Suche nach sich selbst, nach seiner eigenen Bestimmung, versetzt. Ein deutlich kürzerer zweiter Erzählstrang - beide Geschichten wechseln einander immer wieder ab - begleitet die Eltern Carls, Inge und Walter, nach Westdeutschland, wohin sie in den Tagen nach der Öffnung der Grenze glücksuchend geflüchtet sind, und lässt die beiden knapp fünfzigjährigen Thüringer dort allerhand Erfahrungen machen, die die Problematik der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf eine die Ostberliner Szenerie ergänzende Weise behandeln. Sowohl bei den Eltern als auch dem Sohn handelt es sich um nicht sonderlich politische Menschen mit einer je eigenen Agenda, dem Traum vom Neubeginn der Eltern, dem des angehenden Lyrikers bei Carl, Träume, die nicht nur anhand der kleinen, aussagekräftigen Details indirekt auch die beschriebene Übergangszeit charakterisieren, sondern in ihrer Traumhaftigkeit, die eine, wenn man so will, west-, die andere ostlastig, einen geradezu märchenhaft-versöhnlichen Kommentar des Autors zur erwähnten Epoche darstellen.

Wer sich für Begleitumstände deutsch-deutscher Geschichte wenig interessiert und für die Geschicke und Belange der Familie Bischoff womöglich gar nicht, wird den Text ob seiner herausragenden Sprache dennoch mit großem Genuss lesen können. Die mehr als fünfhundert Seiten sind sorgfältig ausgearbeitet, die intensive Beschäftigung mit Lyrik merkt man allerorten an der Ausdrucksgenauigkeit und der subtilen Symbolik, zugleich handelt es sich jedoch um Prosa durch und durch, unaufdringlich konventionell und schnörkellos erzählt, dem Erzählten perfekt entsprechend, manche Wörter sind anspielungsandeutend kursiv hervorgehoben, die Kapitelüberschriften geschmackvoll originell und die Dialoge voll feiner Psychologie.

Geradezu klassisch-antik beginnt es mit der Anrufung der Leipziger Klagemauer, einer kilometerlangen Ziegelwand, welche die Zugreisenden, wenn sie wieder einmal vor der Einfahrt in den Stadtbahnhof aus unerfindlichen Gründen lange stehen und warten müssen, vor Augen haben. Damit ist das Thema DDR allerdings schon so gut wie abgehandelt, die Unfreiheit versteht sich von selbst, die damalige Sauwirtschaft wird nur zart angedeutet (die in einer Bäckerei arbeitende Inge Bischoff ist dazu angehalten, für die Mehlspeisen ständig neue Ersatzstoffe zu finden, bis schließlich auch das Wort "Ersatz" durch "Austausch" ersetzt wird), aber alles das, das Zurückgelassene und sich in diesem Jahr 89 mit zunehmender Geschwindigkeit Auflösende wird auch im Buch rasch zurückgelassen, es geht um den Weg in die Zukunft. Inge und Walter also auf der Suche nach Arbeit und neuer Staatsbürgerschaft im Westen; der Sohn, der weiter nichts über ihre Absichten erfährt, sie lediglich noch mit dem Familienauto, einem prächtigen sowjetischen Shiguli bis zur Grenze bringen darf (da sein Vater befindet, es sei ungehörig, mit dem eigenen Auto in ein Flüchtlingslager zu fahren), hält es freilich nicht lange in Gera aus, bricht bald in die von den Umbrüchen besonders betroffene Hauptstadt auf, wo er sich zunächst, Ende 89, mit Schwarztaxifahrten im erwähnten Shiguli durchschlägt, um schließlich - der frostige Winter setzt dem im Auto Übernachtenden hart zu - bei einer Gruppe von Hausbesetzern, dem sogenannten Rudel, Obhut und Unterschlupf zu finden.

Es ist dies eine recht uneinheitliche, zusammengewürfelte Schar, die praktische Gründe, zuallererst die Wohnungsfrage, politische Utopien bezüglich der neuen zu gestaltenden Zeiten und unterschiedlichste persönliche Antriebe, sei es Erlösung von persönlicher Verlorenheit, seien es - Carls Fall ist keine Seltenheit - künstlerische Ambitionen, zusammengeführt hat. Von den vielen am Rande beschriebenen Personen soll hier nur der Anführer, Hoffi oder der Hirte genannt, erwähnt werden, ein Bauer, der mit seiner Ziege Dodo aus dem Norden des Landes in die Hauptstadt gezogen ist, hier seine visionären Ideen verwirklichen will und zu ihrer Umsetzung, als Bollwerk gegen den zu erwartenden kapitalistischen Widerstand, einer Arbeiter-Guerilla zu bedürfen glaubt. Dies wird im weiteren das Umfeld bleiben, von dem aus Carl die nächsten Monate und Jahre erlebt, die politischen Entwicklungen wie den Fall der Mauer, die Währungsunion, die schrittweisen äußeren Veränderungen und natürlich das Scheitern der radikaleren Ideen in der Hausbesetzerszene - der nur im nachhinein erzählte unvermeidliche Zusammenprall mit Gesetz und Exekutive stellt einen Wendepunkt des Romans dar. Flüchtig skizziert wird zuvor ein Bild von den unterschiedlichen Bestrebungen der einzelnen Hausbesetzerchefs, die, um ihre Abwehr gegen zu erwartende Angriffe der Obrigkeit zu koordinieren, sich zu einem Plenum zusammenfinden, diskutieren, trinken, Reden schwingen. Über Hoffi heißt es bei einer solchen Gelegenheit:
"Die Reden des Hirten. Ihre Verrücktheit schien nicht wirklich bedenklich, sie streifte Carl nur, eher angenehm, wie ein frischer kühler Wind im Sommer, und am Ende nahm er vor allem Wahrhaftigkeit wahr, ein Anliegen, das sich hinter all den Worten vom U-Boot, dem Stützpunkt und der Arbeiter-Guerilla verbarg, so wesentlich und essentiell wie jene schwer erklärbare, noch unbestimmte Sehnsucht, die sie alle verband in diesen Tagen." (S. 137/138)
Höchst unterschiedlich hingegen der erste Eindruck, den ein weiterer führender Hausbesetzer, niemand anderer als Kruso aus "Kruso", der wie auch Edgar Bendler in "Stern 111" Kurzauftritte bekommt, auf Carl macht:
"Er schwieg und schaute in die Runde. Trotz seiner Ruhe und seines überlegenen Auftretens machte der Comandante einen irgendwie beschädigten Eindruck auf Carl. Es lag weniger an dem, was er vorgeschlagen hatte, irgendetwas schien zu Bruch gegangen - in seiner Seele, oder wie sollte man es sagen?" (S. 152/153)

Alles das, wie gesagt nebenbei; der Text macht indirekt ganz klar, dass Wohnungen besetzen und gesellschaftliche Absichten verwirklichen nicht in Carls Focus ist, weit wichtiger für ihn, wenn auch ebenfalls nur immer wieder am Rande berührt, ist ihm sein angehendes Künstlerdasein, die Arbeit am Wort, welche zwar angedeutet wird (Einbeziehung von Stille und Geräusch, von gewissen Worten ausgehende Assoziationsketten etc.), ob aus Scheu oder um der Intensität des Terrains halber jedoch mit einer geringen Dosis ihr Auslangen finden muss.
"Aus seinem diffusen Gemurmel traten die Worte jetzt anders hervor, ein bisschen verletzlicher vielleicht und verschreckt, aber auch frischer und lebendiger, falls man das über Worte sagen konnte (man konnte)."
(S. 367). 
Der größte Anteil des Romans entfällt auf die Liebesgeschichte zwischen Carl und Effi (eigentlich Ilona), in die er sich schon seinerzeit in Gera wegen ihrer gefühlstiefen Darstellung der Effi Briest verliebt hat und der er nun in Berlin - bildende Künstlerin und auf der Suche nach einer Wohnung - wiederbegegnet. Die Beziehung der beiden wird mit den wichtigsten Auf- und Abwärtsbewegungen und vor allem den Auswirkungen auf den Reifungsprozess des jungen Mannes, der trotz seiner Gutmütigkeit und edlen Gesinnung in Liebesdingen außer sich geraten kann wie sonst nur bei der Dichtkunst und dummen Beleidigungen von Ziegen, geschildert.
"Plötzlich war sein Feldzug durch die Sorgestraße nur noch Eitelkeit, Irrsinn und, ja, Ausdruck fehlender Liebe." (S. 147)

Derweilen machen sich Inge und Walter im Westen auf die Suche nach dem ihnen von ihrem Ex-Staat gestohlenen Leben, dazu gehört das Erweisen ihrer Referenz am Grab von James Joyce oder an einer Gedenkstätte für Bill Haley (der nebst seinem Rock 'n' Roll für Carls Eltern keine kleine Rolle spielt), aber in erster Linie - schließlich sind sie erst knapp fünfzig - geschieht es zukunftsorientert. Dabei lernen sie Westdeutschland im Guten wie im Schlechten kennen, machen die unterschiedlichsten Erfahrungen, die man als ostdeutscher Flüchtling hierbei machen konnte, stoßen auf Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und rasche Aufstiegschancen ebenso wie auf Misstrauen ("Ein Spezialist aus dem Osten, mit dieser Qualifikation? Ein Computerfachmann aus Gera?"; S. 372), Ausnützungsversuche, Vorurteile und Ignoranz ("Und Gera? Ob es Gera überhaupt gab? Und so weiter."; S. 372)).

"Monatlich zweitausend Mark - ein Betrag, so ungeheuerlich, dass man ihn kaum auszusprechen wagte." (S. 265)

Zu den im Roman erwähnten Ostberliner Umständen gehören Arbeiten, mit denen Carl, nachdem die Taxifahrerei als Option wegfällt, sein Geld verdienen könnte: Briefträger, Telegrammboten, in weiße Mäntel mit Kapuze gehüllte Fleischträger (vor allem von Schwarzschlachtungen), Kohlenträger, Totengräber und dergleichen. Nachdem das Rudel einen besetzten Keller zu einem Kellerlokal umfunktioniert hat (wozu Carl, der gelernte Maurer, einiges beigetragen hat), beginnt er in der Assel, wie dieses erste Lokal seiner Art passenderweise genannt wird, als Kellner zu arbeiten.
"Das waren sehr feine, dünne Nudeln, gefriergetrocknet, mit Huhn, Rind oder Shrimps. Zuerst zog man den Verschluss von der Plastikbüchse und ein kleines weißes Staubwölkchen stieg auf (wie beim Öffnen eines uralten Grabs). Dann übergoss man den Inhalt der Büchse mit kochendem Wasser, und das Unglaubliche geschah: ..." (S. 331).
An der Assel kann man gut die Veränderungen der Zeit ablesen, immer neue Gäste finden den Weg in diese Unterwelt, der Kapitalismus drängt naturgemäß mehr und mehr in den Vordergrund, Sowjets verhökern vor ihrem Abzug 1994 einige ihrer Waffen, findige Souvenirhändler Brocken aus der Berliner Mauer, ein ehemaliger Gehilfe des Hirten, ein geborener Barmann mit künstlerischer Vergangenheit, wird zum Mann der Stunde:
"Was ist hier los, Hans, woher kommen die alle?"
"Meinst du die Nutten? Oder die Russen?"
Er trat nah an Carl heran, vielleicht nur, weil es einfach zu laut war.
"Diese Gegend war schon immer
das reine Vergnügen. Nur die paar Jahrzehnte zwischendurch sah es ein bisschen anders aus."
"Aber warum die Assel?"
"Wegen der Arbeiter-Guerilla", antwortete Hans mit ernstem Gesicht. Dann brach er in Gelächter aus, und auch Carl musste lachen, aber mehr wegen Hans, der sich verschluckte und zu husten begann. Er deutete auf die Zigarrenkiste, die sie als Kasse benutzten: "Richtiges Geld, Carlo, verstehst du? Mit uns zieht die neue Zeit - und das verändert die Lage."
(S. 274)

Die anbrechende neue Zeit bringt zwar ein Mehr an Wohlstand, verträgt sich indessen weder mit Stern 111, dem guten Transistorradio aus der alten Zeit, noch mit der weisen Ziege Dodo, die sich am Ende mitsamt ihrer magischen Milch ebenso effektvoll und märchenhaft, wie sie in Erscheinung getreten, davonmachen wird.

(fritz; 09/2020)


Lutz Seiler: "Stern 111"
Suhrkamp, 2020. 527 Seiten.
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