Josepha Mendels: "Rolien & Ralien"


Der innere Elfenbeinturm als Bollwerk gegen Fremdbestimmung: auch Frauen wollen die Wahl haben

"Von den dreien, denkt er, ist mir die hier noch am nächsten, aber sie ist auch ein Mädchen, und er antwortet: 'Wärst du ein Junge gewesen, hätten wir zusammen forschen können. Meine Wissenschaft ist nichts für Frauen.'" (S. 124)
So spricht Roliens Vater, enttäuscht darüber, keinen Sohn bekommen zu haben und unfähig, seinen wahren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, bis er im Angesicht des Todes - spät aber doch - immerhin ein wenig aus sich herauszugehen vermag.

Josepha Mendels (18. Juli 1902 - 10. September 1995) kam als jüngste von drei Töchtern in einer streng jüdisch-orthodoxen Familie in Groningen zur Welt. Ihr anno 1947 in den Niederlanden veröffentlichter, wenn man so will - auch - frühfeministisch angehauchter Roman "Rolien & Ralien" weist unverkennbar autobiografische Züge auf: Im Mittelpunkt steht Rolien Kolar, ein eigenartiges Mädchen aus gutbürgerlichem Haus mit zwei Schwestern, blühender Fantasie, entlarvender Beobachtungsgabe, Schriftstellerambitionen - und einer Persönlichkeitsstörung, zu Beginn des Romans elf Jahre alt. Aus Roliens Perspektive werden in 26 zeitfolgegemäßen Kapiteln mit größeren Aussparungen, schließlich umfasst der Roman lediglich 180 Seiten, jeweils prägende und typische Familien- und Schulsituationen sowie Erlebnisse in Paris geschildert. Wobei aus heutiger Sicht gottlob eher verstaubt anmutende Geschlechterrollenklischees mehr oder weniger tapfer abgearbeitet werden.
"Rolien & Ralien" veranschaulicht, wie eine eigenartige Protagonistin einen ungewissen Weg geht und ist nicht zuletzt auch ein mittelbares Gesellschaftsporträt seiner Entstehungszeit.
Gegen jegliche Vereinnahmung hat sich Josepha Mendels stets zur Wehr gesetzt, ihre durchaus auch feministisch lesbaren Zeitdiagnosen bleiben höchst individuell, keineswegs altruistisch verortet, sie erhebt keine generellen Forderungen, sondern stellt jeweils ein - nur vielleicht exemplarisches - Schicksal in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen.

"De maatschappij schrijft mij niets voor. Ik doe alleen waar ik zin in heb. Ik zal sterven als een niet-nette dame." (Josepha Mendels)

Schon früh vernimmt die sprachverliebte Rolien, die sich mit ihrer Mädchenrolle nicht anfreunden oder gar abfinden will, eine ihr Befehle erteilende und ihr Verhalten kommentierende innere Stimme, die "Ralien" genannt wird, Rolien zu zwangsneurotischen Handlungen anstiftet und sich immer wieder bestimmend einmischt, jedoch aufgrund ihrer "boekentaal" ("Büchersprache") auch positiven Einfluss auf Roliens frühe Schreibversuche nimmt. Übrigens macht sich Rolien schon als Kind Gedanken darüber, wie ihre Werke dereinst rezensiert werden. Raliens Einflüsterungen entkommt die knapp zwanzigjährige Einsame nur vorübergehend, als sie nach Paris auswandert, doch nach einer schmerzhaften Nacht mit einem spielsüchtigen Verführer kehrt die wirkmächtige Fantasiefreundin Ralien für immer zurück; bis dass der Tod sie scheidet ...
Alle "echten" Mädchenfreundschaften sind längst an den Klippen des damals nicht selten noch überwiegend (seitens der Eltern und Ehemänner) fremdbestimmten Frauendaseins zerschellt, Männer betrachtet Rolien ohnedies schon seit jeher mit Skepsis bis Abscheu (vielleicht denkt mancher Leser während der Lektüre gelegentlich an das Lied der Gruppe "Die Ärzte": "Männer sind Schweine" aus dem Jahr 1998?), ihre Zuneigung und ihr Interesse gelten in jungen Jahren Puppen, der Mutter, der verehrten Lehrerin und ihren wenigen Freundinnen, die sie eifersüchtig gänzlich zu vereinnahmen trachtet, was naturgemäß schiefgeht. Freilich darf auch eine Rivalin nicht fehlen.
Dass sie anders als die Umgebungsmenschen ist, erkennt Rolien bereits als Kind, auch die Erwachsenen kommen nicht umhin, dies festzustellen, sind jedoch ratlos, und Rolien bewahrt sich diese unkonventionelle Position mit hartnäckigem Trotz, der bisweilen Opfer fordert und auch zu Kummer führt.
Doch auch jene Frauen, die (Männer!) geheiratet und Kinder in die Welt gesetzt haben, finden ihr Glück nicht, stecken nicht selten in Lebenssackgassen fest und sind dann nur noch traurige Schatten, sie haben alle Träume und Hoffnungen eingebüßt.
Allzubald wird klar, dass zwischen den so unterschiedlichen Persönlichkeitsbestandteilen Ralien und Popul nur wenig Raum für die tendenziell lebensuntaugliche Rolien vorhanden ist. Zuflucht und so etwas wie Trost findet Rolien beim Lesen und Schreiben, sie verkörpert demonstrativ mit jugendlicher Sturheit das Streben nach Selbstbestimmung - sie kann ja gar nicht anders. Rolien wird nicht in einer stilisierten Opferrolle gezeigt, hinsichtlich Schulbildung gehört sie ohnedies einer privilegierten Schicht an, und ihre Allüren zeugen durchaus von Standesbewusstsein. Wobei es ihr entschieden an Talent für sinnstiftende zwischenmenschliche Beziehungen, gleich welcher Art, mangelt. Selbstgenügsame Spielereien sind ihr eigentliches Metier.
In Paris gibt ihr vor allem die beeindruckende Bibliothek Halt, während wechselnde Bekanntschaften keinerlei Sicherheiten bieten, sondern eher verstörend wirken. Auch die sich anbahnende Beziehung mit dem scheinbar guruhaften Scharlatan Charles L. endet in einer bitteren Enttäuschung. Gespräche mit Zufallsbekanntschaften, Stadtspaziergänge, Gedankenspielereien ... und die überstürzte Flucht aus Paris. Schließlich kehrt Rolien aufgrund eines Telegramms nach nur einem Jahr Abwesenheit kurzzeitig zu ihren Eltern zurück, bevor es sie ebenso plötzlich erneut nach Paris verschlägt.

Josepha Mendels' Stil wirkt streng, nüchtern und kompromisslos, die straff gespannten Kurzkapitel treiben Roliens Lebenslauf voran. Dennoch weist die erste Romanhälfte einige Längen auf, zumindest aus heutiger Sicht hätten die Mädchenjahre nicht derart detailliert abgehandelt werden müssen, Roliens wieder und immer wieder zelebrierte und zur Schau gestellte Eigenheiten ergeben in Summe beinahe eine Überdosis.
"Rolien & Ralien" ist und bleibt aufgrund der Verfassung seiner egozentrischen Protagonistin, der Josepha Mendels ein stimmiges, wenngleich morbid schwülstiges mögliches Ende beschert hat, ein befremdliches Werk.
Das viereinhalbseitige launige Nachwort der 1985 geborenen niederländischen Schriftstellerin Roos van Rijswijk ("Fühlen Sie, dass nicht jeder so ist wie Sie und dass andere Leben mitunter grotesk und nicht zu fassen sind, selbst wenn man diese Leben berühren und begreifen möchte." S. 187) beschließt den von Josepha Mendels ihrem Enkel gewidmeten Roman.
Auf Deutsch liegt bislang leider keine Biografie der Schriftstellerin und Journalistin vor, allein Sylvia Heimans' "Josepha Mendels. Het eigenzinnige leven van een niet-nette dame" aus dem Jahr 2016 kann als weiterführende Lektüre genannt werden.

(kre; 08/2020)


Josepha Mendels: "Rolien & Ralien"
(Originaltitel "Rolien en Ralien")
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
Verlag Klaus Wagenbach, 2020. 192 Seiten.
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Josepha Mendels wanderte zunächst nach Paris aus, schrieb dort journalistische Texte und ihren ersten Roman. Danach emigrierte sie nach London, wo sie bei einem Nachrichtendienst angestellt wurde. 1945 kehrte sie nach Paris, erst drei Jahre vor ihrem Tod in die Niederlande zurück. In Paris arbeitete sie in der Pressestelle der niederländischen Botschaft und wurde im Alter von 46 alleinerziehende Mutter eines Sohnes. 1970 erschien ihr letzter Roman, ihr Debüt als Schauspielerin feierte sie mit 72 Jahren. Mendels erhielt für ihre Werke viele Preise und wurde in den Niederlanden schon in den 1980er-Jahren besonders in feministischen Kreisen gefeiert.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Du wusstest es doch"

Josepha Mendels führte ein für damalige Verhältnisse beispiellos unabhängiges Leben und setzte mit der Figur der Henriëtte allen frei denkenden, fühlenden und handelnden, ebenso verrückten wie lebensklugen Frauen ein Denkmal.
Der jüdische Dichter Frans gibt sich 1943 auf der Flucht das Versprechen, jede Erinnerung an seine in den Niederlanden zurückgelassene Frau, seine zwei Kinder und seine Mutter in einen geheimen Winkel des Herzens zu schieben - und den Rest weit zu öffnen. Dann begegnet er im Londoner Hyde Park zufällig der ebenfalls exilierten Henriëtte, und sofort beginnt ihre exzentrische, freie, ehrliche, intensive Liebe, die ihr eigenes Ende kennt und deshalb die Kompromisse umso kompromissloser lebt.
Dieser Liebesroman verzaubert durch seine zugleich poetische und humorvolle Sprache, die frei von jedem Pathos ist. (Verlag Klaus Wagenbach)
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Sylvia Heimans: "Josepha Mendels. Het eigenzinnige leven van een niet-nette dame"
Josepha Mendels groeide aan het begin van de twintigste eeuw op in een orthodox-joods milieu, maar kon daar moeilijk aarden. Ze begon te schrijven naast haar werk als gouvernante, en vertrok op vierendertigjarige leeftijd naar Parijs, om het benauwde Nederland achter zich te laten. Na de Tweede Wereldoorlog zou ze een gevierd auteur worden, bekroond maar ook verguisd.
Mendels is een flamboyante persoonlijkheid, maar er schuilt ook een diepe, droevige geschiedenis achter haar vrijgevochten karakter. De moord op haar hele familie door de nazi's wierp niet alleen een schaduw op haar succes, maar op haar hele leven.
Zeker is dat ze los is gekomen van haar orthodoxe jeugd. Na de oorlog was de jonge Simon Vinkenoog haar minnaar en Anna Blaman haar vriendin. Ze werd een bekend en gelauwerd auteur door haar sterke, onafhankelijke vrouwelijke personages, en maakte er een punt van nergens bij te horen. Niet bij de joden, niet bij de feministen en niet bij de schrijvers: "De maatschappij schrijft mij niets voor. Ik doe alleen waar ik zin in heb. Ik zal sterven als een niet-nette dame."
Wie is deze vrouw, die de verwachtingen van haar omgeving overwon en haar eigen weg koos? Die alle normen tartte door als vijfenveertigjarige vrouw een van de eerste 'bewust ongehuwde moeders' te worden, en die op haar tweeënzeventigste haar debuut als actrice maakte en schaars gekleed op het podium van een theater in Parijs stond?
Sylvia Heimans maakt de winst- en verliesrekening op van het leven van een eigenzinnige en onconventionele schrijfster, die haar omgekomen familie op het toneel van de grote literatuur wist te brengen, en het liefst had gewild dat haar familieleden getuige konden zijn van haar succes. (Cossee)
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