Franz Hohler: "Fahrplanmäßiger Aufenthalt"


"... Haben Sie 'Homo faber' geschrieben?"
"Nein", sagte ich, "von mir ist 'Der Besuch der alten Dame'."
"Eben", sagte die junge Dame und nickte. ..."
(S.102)

Begonnen hat der 1943 geborene Schweizer Franz Hohler seine Künstlerkarriere als Kabarettist, mittlerweilen ist er bereits bei einer großen Zahl an Gedichten, Theaterstücken, Romanen und vor allem Erzählungen angelangt, heuer vermehrt durch den Band "Fahrplanmäßiger Aufenthalt". Dieser besteht aus ein Siebentel bis sieben Seiten kurzen Texten recht unterschiedlichen Charakters, viele davon anscheinend mit eigenen Erlebnissen und Beobachtungen zum Inhalt, außergewöhnlichen, komischen, traurigen oder sonstwodurch festhaltenswerten Vorfällen. So vermag ihn beispielsweise schon ein einzelnes Wort wie "Allmählichkeitsschaden", auf das er in einem Artikel über Schäden, die in den Prämien für den Transport von Bildern oder Skulpturen nicht versichert sind, stößt, glücklich zu machen und zu einer Geschichte zu animieren.

Franz Hohler erzählt auf wenigen Seiten von gar vielem: der unscheinbaren Tragik des Fenstertodes eines jungen Amselchens, derweil der Vater (falls es denn der Vater ist) davon nichts bemerkend sein Lied in die Welt trällert, von bürokratischen Fehlleistungen, vom Erschrecken vor dem eigenen Schatten, von einem Konzertbesuch mit Musik der Stille à la John Cage, von einer von einem Zug in Panik versetzten Entenschar, vom einstigen Schülerbesuch einer Schuhfabrik, in der ihn Schwindel überkommt, als ihm klar wird, dass sich viele Jahrzehnte zuvor seine Großeltern ohne erhöhte Importzölle nebst Auswirkungen nie kennengelernt hätten und es im weiteren auch ihn, so schließt der Kleine schweizermesserscharf, nicht geben würde. Seine größte Stärke hat das Buch, wo sich eine Momentaufnahme anlauflos in klaren, treffenden Sätzen formulieren lässt:

"Flucht
Bevor du zum Toten tratst, stahl sich eine kleine weiße Gestalt zum Zimmer hinaus, huschte durch den langen Korridor, verließ das Haus und begann zu rennen. Es war die Zeit."
(S.23)

Flüchtlinge lässt sich Hohler überhaupt angelegen sein, und immer im Plural. Dass er sich dabei nicht mit dem ausdrucksstarken Bild eines Flüchtlingsboots in einem Gebirgssee begnügt, sondern ein Flüchtlingsmanifest draufsetzt, in welchem er einen ziemlich weithergeholten Vergleich mit der Zeit des Nationalsozialismus zieht und mit dem Hinweis auf die damalige Rolle der Schweiz an das schlechte Gewissen seiner Landsleute appellierend (eigentlich der Europäer insgesamt) zu mehr Großzügigkeit (finanzieller?, kultureller?, politischer?, juridischer?) mahnt, ohne dabei auch nur ein einziges Mal von konkreten Individuen oder schlicht von Einwanderern zu sprechen, ohne über Fluchtursachen, Schlepperei und Verführung, geschweige denn die mächtigen Interessen im Hintergrund ein Wort zu verlieren, weist ihn als überzeugten Vertreter einer littérature engagée (disons) aus.

Etliche Geschichten bringen das zwiespältige Verhältnis Franz Hohlers zur globalisierten Moderne, an welcher ihm manch kritikwürdiger Aspekt auffällt, zum Ausdruck. Sinnbild für das Unheimliche der neuen Zeit wird dem Autor ein der Speicherung und Weitergabe gewaltiger Datenmengen dienendes Gebäude, obwohl ein Besucher viel eher den Eindruck gewinnen könnte, dass die darin mit Kühlung, Überwachung und derlei beschäftigten Menschen es sind, die diesem dienen. Mehr ins Satirische gehen hingegen andere Geschichten wie etwa die von der Schwierigkeit, eine Geschenkkarte im Wert von 200 Franken einzulösen. Und wenn der Erzähler "die Firma Canon, die mir bei jeder Gelegenheit irgendwelche technischen Nutzlosigkeiten einspielt, statt mich einfach fotografieren zu lassen" (S. 79) verflucht oder die Diktatur der kurzen Mäntel, in welche er sich durch ein Bündnis aus Kälte und fehlender Konkurrenz gezwungen sieht, beklagt, ist dies nur vordergründig harmlos.

Eine Lieblingsbeschäftigung des Autors ist das Reisen, manchmal geht es in die nähere Umgebung wie den Kanton Appenzell oder das Hochtal von Avers, Hort der Zeitlosigkeit und Langsamkeit auch heute noch, häufig in weitere Fernen, nach Kenia, wohin er eine seiner Töchter verheiratet, nach Sankt Petersburg auf der Suche nach Daniil Charms, nach Sarajewo auf einen islamischen Friedhof, in die Ukraine, wo man ihm erfolgreich ausredet, bei dem neuen Präsidenten könnte es sich um einen Hoffnungsträger handeln, nach Sibirien und Usbekistan.

"Ich hätte mich gerne einmal unter die Busfahrenden gemischt, eine Stadt lernt man erst dann kennen, wenn man ihre öffentlichen Verkehrsmittel benutzt." (S. 31)

Freilich, im allerbesten Abenteureralter ist der Autor nicht mehr,  und so setzt er aus einzelnen Beobachtungen (welche prominenten Gäste er in einem Nobelhotel in Odessa angetroffen etc.), Engagement und bildungsbürgerlichen Einschüben (das Suaheli-Wort "Safari" bedeutet "Reise", Gafur Gulom war ein bedeutender usbekischer Literat des 20. Jahrhunderts etc.) seine Reiseimpressionen zusammen.

Den Daniil Charms hat er übrigens wirklich gefunden, nicht nur dessen Haus, denn einige besonders kurz gehaltene, zwischen Absurdität, Fabel- und Parabelhaftem pendelnde Geschichten stellen sich in die Nachfolge der Charms'schen Prosaskizzen, atmen etwas vom Geist dieses frühverstorbenen literarischen Originals.

(fritz; 05/2020)


Franz Hohler: "Fahrplanmäßiger Aufenthalt"
Luchterhand, 2020. 112 Seiten.
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