Peter Handke: "Das zweite Schwert"

Eine Maigeschichte


Die Uraufführung seines Stücks "Zdenek Adamec" bei den diesjährigen Salzburger Festspielen sei zum Anlass genommen, auf ein anderes ebenfalls heuer erschienenes Werk Peter Handkes, den 158 Seiten umfassenden Prosatext "Das zweite Schwert", hinzuweisen. Untertitel: "Eine Maigeschichte", spielend an einigen wenigen Spätapril- und Frühmaitagen in der Ile-de France (salopp: Paris Umgebung) und auch ein wenig der (nördlich anschließenden) Picardie, geschrieben ebendort im April und Mai des Jahres 2019.

"Das zweite Schwert" ist so etwas wie ein moderner Ritterroman, darin der Held einen höheren Auftrag erhält, sich sammelt, zu hehrem Tun aufbricht, unterwegs manche Abenteuer, die ihm den Weg freigeben, ihn allenfalls darin bestärken und weiterleiten, besteht, an einem Ort der Stille (im vorliegenden Fall ist dies das längst aufgelassene Kloster Port-Royal-des-Champs, zeitweiliger Lebensmittelpunkt Pascals und Racines) Einkehr hält um die Kräfte einmal noch zur finalen Entscheidung zu bündeln und schlussendlich obsiegt.
Peter Handke erzählt uns freilich keine einfache Geschichte, vielmehr zeigen sich darin unterschiedlichste Bestandteile seines Lebens, Eindrücke und Vorkommnisse aus der beschriebenen Region, teils weit zurückführende Erinnerungen und Erfahrungen, Historisches und Aktuelles, Traum und Vorstellung, Emotion und Vision zu einem (aus den beiden Teilen 1: Späte Rache und 2: Das zweite Schwert bestehenden) Ganzen verdichtet.

Mit einem heftigen Rachewunsch setzt die Maigeschichte ein, mit dem Blick in den Spiegel und der Frage, ob der Spiegelschauer zur ultimativen Gewalttat, einen Menschen zu töten, fähig sei. Tödlich, unverzeihlich beleidigt wurde seinerzeit - vor ziemlich langer Zeit, doch wie könnte es bei derlei Verjährung geben? - die Mutter des alter ego-Erzählers (ebendie aus "Wunschloses Unglück"), indem ihr von einer Journalistin bösartigerweise Sympathie für Nationalsozialismus und Führer beim Anschluss Österreichs anno 1938 unterstellt wurde, womit nun freilich auch das alte heikle Thema, die Fehde zwischen dem nach eigener Aussage zur Voreiligkeit neigenden Autor und jenen Journalisten, die sich - von ihrem Dienstherrn oder wem auch immer - mitunter für Hetz- und Einschüchterungskampagnen einspannen lassen, anklingt. Sehr Persönliches also und zugleich sehr Allgemeines; so heißt es in Hinblick auf die Motivation bereits auf der ersten Seite:
"... zwar - vielleicht - auf eigene Faust, doch jenseits dessen im Interesse der Welt und im Namen eines Weltgesetzes, oder auch bloß - warum "bloß"? - zum Aufschrecken und in der Folge Aufwecken einer Öffentlichkeit. Welcher? Derjenigen welcher."
(S. 11/12)
Dieser Rachdurst speist sich aus heiligem Zorn, aus Empörung, Widersetzlich- und Widerständigkeit und ist also mitnichten als rein äußerlich zu verstehen, ebensowenig wie alles andere in dem bei aller Unmittelbarkeit hochsymbolischen und stark chiffrierten Text (ein unverfrorener Spatz würde vielleicht ungewollt in die Geschichte zu drängen imstande sein, aber ein Rotkehlchen: niemals!).

Zunächst vernimmt man noch ab und zu Widerständiges:

"Diese Häuser waren nur im Moment menschenleer; ein Augenblick, und ich würde willkommen geheißen, aus einer ganz unvermuteten Richtung, ob französisch, deutsch, arabisch (alles, nur kein "welcome!")." (S. 20; anlässlich von Osterferienausgestorbenheit)

" ... Und doch fühle er sich den andern oben unterlegen, "unter dem Niveau" derer, die nichts im Sinn hätten, als zu siegen und zu töten, ja, "ich bin nicht auf ihrer Höhe! ich will woandershin. Wohin? Weiß nicht. Wenn ich's nur wüßte. ..." (S. 44; hier klagt ein Manager, der betuchteste Besucher der Stammbar "Zu den drei Bahnhöfen")

Und eine Petitesse von Gewaltfantasie hat das Schaufenster eines Yoga-Ladens zum Objekt.

Doch der Mai ist unvermeidlich - der bereits eine Schreckensvision ausgelöst habende Riesenadler zieht in diesem Jahr nicht wie sonst da oben seine Kreise, es wird merklich wärmer, und spätestens wenn der Erzähler zu Überlegungen, welches Buch ihn denn auf seinem Feldzug begleiten möge, ansetzt, sollte es dem Leser dämmern, dass er auf kein allzugroßes Blutvergießen hoffen darf, dass es mehr als um Rache um Versöhnlichkeit und Versöhnung, um Kontemplation und ein Zur-Ruhe-Kommen geht. Viel später, nach einer kurzen misanthropischen Anwandlung, eine Art Bekräftigung aus dem Mund des an den nächsten ihm Entgegenzukommenden denkenden Erzählers:
"Du wirst ihm im stillen sogleich deinen Haß abbitten, auch wenn er drei Pitbulls spazierenführt."
(S. 135)

Das eine ist also das Temperament, das andere ist die darüber weit hinausgehende ernsthafte Angelegenheit - und so gelingt es dem Erzähler tatsächlich irgendwie, ohne Begleitbuch (wobei es der Evangelist Lukas mit seinem ominösen zweiten Schwert immerhin zum Eingangszitat bringt) aufzubrechen. Und auch nachdem er die Grenzen seiner Welt verlässt und das Gartentor ein letztes Mal in Augenschein nimmt (wir sind schon auf Seite 65), ist die Bewegung zu der gar nicht so weit entfernt lebenden Beleidigerin nicht schnurstracks, sondern verästelt und mit zahlreichen, gern genommenen Umwegen (der wegen großflächiger Renovierungsarbeiten laufende Schienenersatzverkehr kommt ihm da gerade recht, zumal das Busfahren, wie wiederholt darauf hingewiesen, eine hervorragende Verjüngungskur bedeutet); inneren Gesetzmäßigkeiten und Spontanentscheidungen gehorchend soll ein Schritt nach dem anderen hin zum großen Ziel führen.

Das allerwichtigste bei Peter Handke, so auch hier, ist immer die Sprache selbst, Zeugin und Trägerin seiner besonderen Weltwahrnehmung. Haut- und seelennah möchte man sie, zumindest in dieser Geschichte, die manchen Maiwind konserviert und sich hin und wieder mit einem zeitlosen "Siehe!" und ähnlichem direkt an den Leser wendet, nennen. Eine Sprache, die den Leser in den Rhythmus ihrer Innerlichkeit aufnimmt, ihn permanent auf das hinter den Sätzen stehende Bewusstsein hinweist, ihn unmittelbar teilhaben lässt an den Satzbildungen, dem Suchen, Verwerfen, Finden des bestmöglichen Wortes, um, was es denkt, empfindet, sieht, auch angemessen auszudrücken.
Das Schauen ist dabei ein genaues, aber behutsames, nicht Beobachtung und auch kein Ausschauhalten nach besonderen oder besonderen alltäglichen Dingen:
"Meine Sache, wenn es die überhaupt gibt: Etwas, ohne ein Zutun, gewahr zu werden, dessen freilich in meiner, siehe oben, Einbildung umfassend und ein für alle Mal, und mit dem Bild dann alsogleich und auf der Stelle wegzudriften in einen Wachtraum so wach, wie ich von nichts Wacherem sonst weiß."
(S. 36)

In "Das zweite Schwert" sind einige Visionen eingenäht, so eine sich zu vollendeter Harmonie hin entwickelnde Szenerie auf den Stufen eines Obdachlosenheims oder der schier metafysische Tanz eines balkanischen Schmetterlingspaars oder - zweifellos ein Höhepunkt der Geschichte (zumal einst - siehe wieder "Wunschloses Unglück", auch der Sohn der Mutter Kränkungen zugefügt hat) - ein Traum von der Verstorbenen, flammend und "auf ewig ausgeweint", wie es unter anderem heißt.

Vom besonderen Wahrnehmen zu den besonderen Worten, die Peter Handke gebraucht, nicht leichthin eingeworfen, sondern in beispielhafte Sätze gefügt. "Grundanders" tönt es da (wohl ein seriöser Verwandter des liderlichen Grimmelshausen'schen "Baldanders"), "keinmal" und nicht nie als eine Mehrzahl unverwirklichter Möglichkeiten, "kleinwinzig" und nicht etwa umgekehrt und nur mit Lupe zu erspähen, "Ortsfreude" als eine Geschmacksnuance von Heimatgefühl - weit mehr natürlich: Handke kann mit einem Wort wie "Ortsfreude" oder "Schein" seitenlang tanzen.

In so einem Ritterleben tut sich indessen auch sonst so allerhand, selbst dann, wenn sich der Ritter zwar vielleicht auf sein Ziel hin, in der Zeit derweilen zurückbewegt. Die Gegenwart der anderen Fahrgäste, konkrete, zum Teil eingehender beschriebene Franzosen, Araber, Portugiesen, Afrikaner, Polen, sonstwelche (z. B. Österreicher) ... mit einem Taxifahrer (des Gehens zu Fuß mit einem Mal müde, wäre der immer selbstironischer werdende Erzähler auch in einen Hubschrauber geklettert) frischt er Jugenderinnerungen auf, singt begeistert mit ihm im Duo Eric Burdons Ballade "When I was young" (gleich auch ins Deutsche, Serbische und Französische übersetzt) ... eingeschrieben in eine Mauer findet er Gedenkworte an das Ende des Zweiten Weltkriegs und zu einer Einsicht ... mit einem wortgewaltigen Schnellrichter aus seiner Gegend (von diesem wiederum eine - möglicherweise leicht übertriebene, ist halt derzeit ziemlich aktuell - Schmährede wider das Kapitalverbrechen "Rechtsmissbrauch") söhnt er sich - Pascal sei Dank - aus ... immer wieder dieser Blaise Pascal selbst in seinem siebzehnten Jahrhundert mit seinen "Gedanken" ... auf einem alten Königstein zeigt der Erzähler den traditionellen, wenn auch in Vergessenheit geratenen Sitztanz und denkt an den mittelalterlichen König Ludwig, den Elften ... und mit dem Schlussbild befinden wir uns quasi im alten Gallien, und alle Gäste, unter ihnen der Erzähler (hingegen fern irgendwo in einer Ecke, beiseitegeschoben und auf moderne Weise geknebelt, die falsche Tröte), feiern ein großes Fest der Helligkeit. Ende. "... Auf zur Fortsetzung!" (S. 37)

(fritz; 08/2020)


Peter Handke: "Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte"
Suhrkamp, 2020. 160 Seiten.
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