Katrine Engberg: "Glasflügel"
Spannender dritter Teil
der "Kopenhagen"-Serie
"Glasflügel" ist, nach "Krokodilwächter" und "Blutmond", der dritte
Spannungsroman mit dem sympathischen Ermittlerduo Anette Werner und
Jeppe Kørner der dänischen Autorin Katrine Engberg.
Allerdings ist Anette Werner nach der Geburt ihres Kindes in Karenz, was
sie allerdings nicht davon abhält, ungefragt auf eigene Faust zu
ermitteln, um die Ermittlungen zu beschleunigen. Doch dazu später.
Nach einem Prolog, in dem eine Krankenschwester einem Patienten eine
tödliche Überdosis eines Medikaments verabreicht, springt der Roman
sechs Tage zurück. In einem Brunnen in der Fußgängerzone im Zentrum von
Stockholm macht ein Mann einen schrecklichen Fund: die nackte Leiche
einer Frau, die eindeutig nicht am Fundort ermordet wurde. Blutleer und
mit unerklärlichen Schnittwunden an Handgelenk und Leiste. Kørner steht
vor einem Rätsel. Als am nächsten Tag erneut eine ebenfalls ausgeblutete
Leiche entdeckt wird, findet sich die erste Spur, die zu einem
mittlerweile geschlossenen Fürsorgeheim für Jugendliche führt. Dass dort
alles zusammenlaufen wird, ist klar, doch Engberg schafft es bis zum
Schluss, die Spannung aufrechtzuhalten.
Während sich Jeppe eigentlich auf eine ruhige Ermittlungsarbeit ohne
seine etwas vorschnelle und kontrollierende Kollegin Anette freut,
treten einige Mitglieder des Teams, die in den beiden Vorgängerromanen
eher Nebenrollen hatten, stärker hervor. Auch da gelingt Engberg eine
überzeugende Figurenzeichnung, die zwar immer wieder das eine oder
andere Klischee bemüht, bevor sie daraus dann doch einen eigenständigen
Charakter formt. Besonders intensiv ist diesmal die alleinerziehende
Mutter von zwei Kindern, Sara Saidani, mit der Kørner am Beginn einer
romantischen Beziehung steht. Nach seiner Scheidung wohnt Kørner nun bei
seiner Mutter, die sich als stärker Kontrollbesessene als Anette Werner
herausstellt.
Werner hingegen ist mit ihrer Mutterrolle überfordert, unzufrieden und
sucht nach Herausforderungen. Das Leben als Ermittlerin fehlt ihr so
sehr, dass sie es sich nicht nehmen lässt und unerlaubt mit einer
eigenen Ermittlung beginnt, die nicht nur zu Eheproblemen, sondern
letztendlich auch zur Aufklärung führen wird. Sie hat halt doch den
richtigen Riecher, wenn man so will ...
Kørner und Werner haben also weiterhin ihre privaten Probleme, die bei
Engberg jedoch nie so sehr im Vordergrund stehen, dass die Spannung
darunter leiden würde. Schön arbeitet die Autorin heraus, wie anders,
vielleicht komplizierter, die Ermittlungen laufen, weil die bisher eher
spontan oder durch stilles Verständnis zwischen den beiden Ermittlern
funktionierenden Abläufe und das Aufeinander-Reagieren hier etwas
hinken. Bewusst natürlich. Erst, als die beiden, wenngleich auch illegal
quasi, gemeinsam vorgehen, klappt es mit der Aufklärung.
Esther de Laurenti, an die man sich aus den ersten beiden Bänden gut
erinnert, hat wieder einmal eine verzwickte Rolle. Auch diesmal ist sie
unwissend mitten im Geschehen, nicht nur, als sie sich mit einem
vermeintlichen Opernsänger auf ein Techtelmechtel einlässt, sondern
auch, weil ihr Nachbar bald in größerer Gefahr steckt, als sie meint.
Die Ermittlungen führen wenige Jahre in die Vergangenheit zu dem
inzwischen geschlossenen Fürsorgeheim für Jugendliche, der Wohnstätte
"Sommerfuglen", ins Deutsche übersetzt bedeutet der Begriff
"Schmetterlinge". Dabei ist der titelgebende Glasflügler eine besonders
zerbrechlich wirkende Schmetterlingsart, die aber für ihre Fressfeinde
tödlich sein kann.
"Glasflügel", obwohl vordergründig ein spannender Roman, ist jedoch auch
eine wirklich gelungene Kritik am Totsparen des Gesundheitssystems.
Konkret in diesem Fall: der psychiatrischen Therapierung von
Jugendlichen, die unterschiedlich starken Bedarf an Betreuung haben. Was
alles bei Überlastung oder mangelnder Kontrolle passieren kann, weil
sich jemand ohne Rücksicht auf Verluste am System bereichern will, wird
in diesem Roman quasi auf dem Seziertisch zur Schau gestellt.
Währenddessen nimmt das Tempo der Ermittlungen zu, es passieren weitere
Morde, falsche Spuren werden verfolgt, während richtige vielleicht
übersehen werden. Gespannt verfolgt man, so wie es in einem
ausgezeichnet geschriebenen Spannungsroman sein soll, das Geschehen, und
ärgert sich, dass man so lange nicht dahinterkommt, wer der oder die
Schuldige ist. Gleichzeitig ist da natürlich noch eine zweite Sache, die
am Ende für zusätzliche Spannung sorgt. Mehr soll an dieser Stelle auch
gar nicht verraten werden.
Wer die ersten beiden Bände gelesen hat, ist sicher im Vorteil, weil
Katrine Engberg erfreulicherweise nicht grundsätzlich davon auszugehen
scheint, dass die vorigen Bücher nicht gelesen wurden und so (für Leser
der ersten beiden Bände) nicht zig absolut überflüssige Seiten lang in
Erinnerung rufen muss, wer genau was wo und in welchem Zusammenhang
bereits getan hat. Das tut der Spannung dieses Romans wohl.
Ausgezeichnet von Ulrich Sonnenberg übersetzt, ist der dritte Teil der
"Kopenhagen"-Serie ein überzeugendes Plädoyer dafür, aufgeregt auf den
vierten Teil zu warten, der hoffentlich bereits längst im Entstehen ist.
"Glasflügel" ist Krimispannung vom Feinsten!
(Roland Freisitzer; 04/2020)
Katrine Engberg: "Glasflügel"
(Originaltitel "Glasvinge")
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg.
Diogenes, 2020. 427 Seiten.
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Katrine Engberg, geboren 1975 in Kopenhagen, arbeitet für Fernsehen und Theater und ist als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin landesweit bekannt. Sie lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.