Dag Solstad: "T. Singer"


Ein herrlich unkonventioneller Roman

Die wenigen von Dag Solstad vorhandenen Fotos zeigen einen Mann, der scheinbar über die unwichtige Tatsache, dass er gerade fotografiert wird, in tiefem Grübeln versunken ist. So scheint er mit seinen ebenso über unspektakulären Situationen grübelnden Protagonisten zu verschmelzen. Das ergibt eine beachtliche Symbiose, die für das Verständnis des Texts sehr hilfreich ist.

Solstads Werk, bisher im deutschsprachigen Raum weitgehend unbeachtet, ist mit keinem der anderen norwegischen Autoren wie Karl Ove Knausgård, Per Petterson  oder Lars Saabye Christensen, die in den letzten Jahren größere Beliebtheit und Bekanntheit erfahren konnten, vergleichbar. Seine Romane sind so eigenständig, dass sie schon aus diesem Grund wie Kuriositäten im Literaturbetrieb dastehen. Um diese kompromisslosen Texte zu genießen, muss sich der Leser zuerst von jeglichen Leseerwartungen verabschieden.

Der Roman "T. Singer" beginnt damit, dass der Protagonist seitenlang über ein Ereignis aus seiner Jugend nachsinnt, das prinzipiell nicht weiter beachtenswert wäre, würde es ihn nicht so belasten. Eine Momentaufnahme ist es, ein aufgesetztes Lachen, das T. Singer seinem Jugendfreund zuwirft, während sie sich in einem Spielzeugladen danebenbenehmen. Dass sie sich danebenbenehmen und dabei von seinem Onkel ertappt werden, ist nicht der springende Punkt, sondern allein die Tatsache, dass Singer dieses ihm zutiefst peinliche aufgesetzte Lachen von sich gibt. Das verleitet ihn dazu, die Situation aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten und mit diversen Schlussfolgerungen zu versehen, die, auch wenn das vielleicht mühsam klingt, sehr unterhaltend sind.

Natürlich auf eine schrullige, verklemmte Art, die wiederum soviel Tiefeneinsicht in die Figur des Protagonisten erlaubt, dass man sehr rasch merkt, es ist ein Autor am Werk, der genau weiß, was er tut. Der das Risiko, zu langweilen, nicht scheut, weil er sich der Stärke seiner erzählerischen Kraft bewusst ist. Oder sich zumindest auf sie verlässt.
Danach driften die Gedankengänge des Protagonisten in eine andere Richtung ab. Er erinnert sich, einem Bekannten über einen anderen Bekannten etwas gesagt zu haben, den er irrtümlich mit einem wieder anderen Bekannten verwechselt hat. Die unterschiedlichen Naheverhältnisse und die dadurch vielleicht entstandenen Missverständnisse, was könnte B über ihn denken, der ihn mit K verwechselt hat und so fort.
Von da an nimmt die Erzählung eine weitere, über einige Seiten gehende Wendung. T. Singer erklärt, wie er als junger Mann Schriftsteller werden wollte, dabei aber immer nur einen (immer denselben) Eröffnungssatz zu Papier gebracht hat. Letztendlich, viele Jahre später, hat er erkannt, dass das Schriftstellerdasein mehr Wunschdenken als Trieb war und lässt sich, begünstigt aufgrund eines wegen der Geschlechterquote möglichen Lehrplatzes, zum Bibliothekar ausbilden.
"Sein ganzer Versuch, als Schriftsteller zu wirken, bestand letztendlich in einem einzigen Satz, an dem er noch herumfeilte: 'Eines schönen Tages stand er Auge in Auge einem denkwürdigen Anblick gegenüber.' So hatte der Satz sich ihm in einem Alter von zwanzig Jahren präsentiert, und in den folgenden Jahren, auf der Höhe seiner Jahre als junger Mann, grübelte er über diesen Satz nach und bastelte an ihm herum."

Dann gewinnt der Roman an Fahrt. T. Singer nimmt eine Stelle in der kleinen Stadt Notodden an. Auf dem Weg dorthin, im Zug, trifft er Adam, der die "Norsk Hydro" leitet, der ihn in seine Villa einlädt, wo es zu einem eigenartigen Abend kommt. Während sie trinken, erzählt Adam auf epische Art und Weise die Geschichte seiner Firma, der ganzen Region und des Verhältnisses von Philosophie und Industrie zueinander. Daraus wird interessanterweise nichts, die beiden Männer treffen in diesem Roman nicht mehr aufeinander, außer einer Notiz über ein todsicheres Wettsystem, das Singer gararantiert großen Gewinn bringen soll.

In Notodden tritt er seine Arbeit als Bibliothekar an, trifft eine junge Frau (mit Kind), die er heiratet. Bald beginnt die Beziehung der beiden unstimmig zu werden, und kurz bevor sie eine Trennung durchziehen können, beendet ein Autounfall jäh dieses Kapitel. Nicht überraschend ist eigentlich dann auch, dass Singer die Tochter der Frau am Ende alleine in Oslo aufzieht. Der Höhepunkt des Romans ist eine "eigenartige Situation", die mit Kinokarten zu tun hat. Mehr möchte der Rezensent dazu an dieser Stelle nicht verraten.
"Im Alltag war Singer von außen gesehen ein umgänglicher Mensch, gemocht von denen, die um ihn herum waren, wenngleich etwas zurückhaltend, er versuchte, überhaupt nicht aufzufallen, aber wer ihn kennenlernte, mochte ihn, weil er offen war und zugleich einen feinen Humor hatte, der manchmal erstaunlich treffsicher sein konnte, manchmal sogar beißend, aber das war selten, und dann besaß er die Eigenheit, anschließend die Brille abzusetzen und zu putzen. Vielleicht versuchte er auf diese Weise, seiner eigenen treffsicheren Bemerkung die Schärfe zu nehmen, die er - sah man genauer hin, während er die Brille absetzte und putzte - selbst zu genießen schien, das konnte man dem zufriedenen Gesichtsausdruck entnehmen, wenn man sich anstelle der Hände, die die Brille putzten, ihn anschaute oder wenn man ihm direkt in die Augen sah, die jetzt kurzsichtig vor sich hin blinzelten, ohne die Glaswand der Brille davor."

Solstads Figuren in diesem Roman, und nicht nur T. Singer, sind gefangen in einem Dasein im Reich der vermeintlichen Mittel- bzw. Unauffälligkeit. Nordische, schnee- und kältebedingte Melancholie ist ebenso allgegenwärtig wie das Fehlen jeglicher nachvollziehbarer Gründe für diverse Grübeleien und Ereignisse. Es ist die Konzentration auf die unscheinbaren, in der Literatur meist nicht präsenten Trivialereignisse, die das Leben der Protagonisten bestimmen. Solstads Blick ist so präzise wie die Uhrmacherwerkzeuge im Mikrometerbereich, und sprachlich scheint ihm alles zu gelingen, egal ob er die Sätze einmal kürzer gestaltet oder über halbe Seiten gehen lässt. Nie kommt dabei Langweile auf, wenn man den Gedankengängen von T. Singer und Co. folgt. Es ist ein literarisch beglückendes Mäandern, das den Leser sicher durch alle verschlungenen Wege und Pfade führt und ihn die Wichtigkeit der im globalen Kontext unwichtigen Gedanken nur allzu gut erkennen llässt.

Herrlich ist ebenso der ganze (letzte) Abschnitt des Romans, in dem T. Singer sich (tatkräftig unterstützt durch seinen Freund Lindemann) um die Erziehung seiner nunmehrigen Tochter in Oslo kümmert.
"Singer also im Sessel, auf seinem angestammten Platz, mit der Zeitung in der Hand, oder er lässt die Zeitung sinken, vor sich, auf den Schoß, oder neben den Sessel, wie ein Blatt von einem Baum, und sitzt einfach nur da, mit geschlossenen Augen, den Blick in sich hinein gerichtet, während er die jungen Mädchen mit ihrem Parfümduft und den geschminkten Augen herumschwänzeln hört, und hin und wieder bekommt er mit, wie eine von ihnen, während sie um ihn herumschwänzeln, sagt: 'Pst, er schläft bestimmt', doch Singer schläft nicht, er ist zumindest nicht so weit abgetaucht, dass er sie nicht mehr hören könnte, wie er dort mit geschlossenen Augen und der Zeitung sitzt, die neben ihm heruntergefallen ist wie ein Blatt von einem Baum, in einem friedlichen Moment seiner Existenz."

Dass da eine gehörige Portion trockenster Humor mitschwingt, ist nicht überraschend. Allerdings kein Humor, der Schenkelklopfen oder lautes Lachen verursachen würde, sondern ein zutiefst eigenwilliger, im Dienst der Sache stehender Humor, den der Rezensent so wie in diesem Roman noch nie erlebt hat. Das ist eine stilistische Eigenart Dag Solstads, großartig übersetzt von Ina Kronenberger, die dazu auffordert, die weiteren soeben als Taschenbuch bei "Dörlemann" aufgelegten Romane Solstads ("Scham und Würde" und "Elfter Roman, achtzehntes Buch") zu besorgen und weit oben auf dem Stapel der zu lesenden Bücher zu platzieren.

(Roland Freisitzer; 02/2019)


Dag Solstad: "T. Singer"
(Originaltitel "T. Singer")
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann, 2019. 284 Seiten.
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