Lars Mytting: "Die Glocke im See"


Epische Saga aus dem hohen Norden

Lars Mytting, der deutschsprachigen Lesern bereits aufgrund seiner Romane "Der Mann und das Holz" und "Die Birken wissen's noch" bekannt sein dürfte, hat mit "Die Glocke im See" seinen nächsten Roman vorgelegt, den offensichtlichen Auftakt zu einer epischen Trilogie.

Angesiedelt zu Beginn im Winter des Jahres 1880, entführt "Die Glocke im See" den Leser in den Norden Norwegens. In ein abgelegenes Tal, in das sich niemand freiwillig verirrt. Es ist eiskalt, und die Vorräte der Menschen schwinden eklatant schnell. Hunger ist überall vorzufinden, und eine alte Frau erfriert sogar während des Gottesdienstes in der alten, ungeheizten Stabkirche von Butangen. Ebenso stark und verbreitet wie der christliche Glaube ist der Aberglaube.
Der Roman beginnt jedoch mit einer schweren Geburt lange vor dieser Zeit.
"Vielleicht die schwerste seit Menschengedenken, und das in einem Dorf, in dem ein Kindbett gefährlicher war als das andere. Der Bauch der werdenden Mutter war riesig, doch erst am dritten Tag der Wehen wurde allen klar, dass es Zwillinge sein mussten. Wie genau die eigentliche Geburt dann vonstattenging, wie lange die Schreie der Mutter in der Stube des Holzhauses gellten und wie die Frauensleute, die ihr halfen, die beiden Kinder am Ende herausbrachten - all das geriet in Vergessenheit. Es war so fürchterlich, dass niemand darüber reden mochte. Die Mutter zerriss es, sie starb am Blutverlust, und ihr Name versank in der Geschichte. Was aber für immer in Erinnerung bleiben sollte, das waren die Zwillinge selbst, und zwar wegen ihrer Eigenheit. Sie waren an der Hüfte zusammengewachsen." (S. 11)

Die beiden Mädchen Halfrid und Gunhild Hekne sind bei der Geburt gesund. Sie atmen, schreien, und "im Kopf waren sie helle". Nach ihrer eher abgeschiedenen Kindheit und Jugendzeit, in der sie ganz und gar ungewöhnliche Teppiche gewebt haben, die eine fast legendenhafte Ausdruckskraft besitzen, sterben die beiden Mädchen plötzlich beim Erreichen der Volljährigkeit, und zum Dank dafür, dass sie gleichzeitig sterben durften, lässt ihr Vater zwei Glocken gießen, welche die Schwesternglocken genannt werden. Es sind Glocken, die so hell und dennoch schwermütig klingen, dass ihr erster Glöckner nach drei Diensten ertaubt und spätere Glöckner es nur mit Bienenwachs in den Ohren und einem Lederriemen um den Kopf gebunden aushalten. Die Glocken besitzen eine mythische Kraft, die sie bei aufkeimenden Gefahren wie einem Hochwasser von selbst erklingen lässt.

Viele Jahre später, lange nachdem der Vater der beiden Zwillinge tot ist, verliebt sich die stolze Bauerntochter Astrid Hekne in den jungen Pastor Kai Schweigaard, der die alte Kirche nach Deutschland verkaufen möchte. Er will mit dem Erlös eine viel größere, modernere Kirche bauen lassen. Als Astrid von diesem Plan erfährt, ist sie schwer enttäuscht vom Pastor und empört. Aus diesem Anlass kommt aus Dresden der junge Architekt Gerhard Schönauer im Auftrag der Königlichen Kunstakademie Dresden angereist, der die Kirche sorgfältig abzeichnet und die Pläne für Abbau, Transport und Wiederaufbau in Deutschland erstellt. Auch zu ihm fühlt sich Astrid hingezogen.
"Sie spürte den Schmerz von allem, was gewesen war, und dem, was kommen würde, und ein bleigrauer Schatten legte sich über ihren Sinn, als er zustieß. Der Schmerz war so stark, dass sie ihm eine Ohrfeige gab. Er hielt jäh inne. Sie starrte ihm in die Augen, bis er Angst bekam, dann griff sie mit beiden Händen seinen Hintern und brachte ihn dazu, weiterzumachen. Immer noch bannte sie seinen Blick mit ihrem, und so fuhren sie fort, bis der große flache Stein unter ihnen verschwand." (S. 276)

Interessant ist auch, dass Lars Mytting die beiden Glocken wie Protagonisten behandelt, sie ins Geschehen einbezieht, gleichwertig mit den anderen Protagonisten. Seine Sprache ist archaisch, fabulierend und wirkt für diesen Roman genau passend. Zwischen sehr ruhigen Momenten, die träge fließende Flüsse beschreiben, Erinnerungen miteinander vergleichen und nachwirken lassen, zeitlos wirkenden Gedanken, einer zärtlich aufkeimenden Liebesgeschichte und einer wundervollen Beschreibung des damaligen Lebens bleibt Mytting genügend Spielraum, um Astrid, eine sehr kluge junge Person, auch gegen die ihr zugedachte Rolle der schweigsam nickenden Frau rebellieren zu lassen. Sie stellt Fragen, widerspricht den Männern, kurzum, sie ist eine fast feministisch angehauchte Figur, für den Rezensenten sicherlich die stärkste Protagonistin dieses episch erzählten Romans, obwohl alle Figuren sehr schön und plastisch gezeichnet sind.

Ein epischer, archaischer Roman, ausgezeichnet übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, der tief in eine kalte und entlegene Gegend und in eine entbehrungsreiche Zeit führt, die dem Leser nach fast fünfhundert Seiten jedoch sehr nahe gekommen ist. Erfreulich ist natürlich, dass weitere Bände folgen werden, die sich dem Schicksal Astrids und Gerhards sowie der umgesiedelten Kirche und dem Dorf Butangen widmen werden.

(Roland Freisitzer; 06/2019)


Lars Mytting: "Die Glocke im See"
(Originaltitel "Sosterklokkene")
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Insel, 2019. 485 Seiten.
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