Simone Lappert: "Der Sprung"


Wie wenig doch manchmal notwendig ist, um ein Leben zu verändern

Simone Lapperts Roman "Der Sprung", ihr zweiter nach "Wurfschatten", ist eine der in diesem Jahr überraschend zahlreichen erfreulichen Neuerscheinungen des Bücherherbstes.

Gleich im Prolog nimmt man Teil am Sprung, der aus der Sicht jener jungen Frau geschildert wird, die sich gerade im freien Fall befindet. Man weiß also schon bevor der Roman wirklich einsetzt, dass sie springt. Allerdings nicht mehr als das. Ein klug gesetzter Kunstgriff, welcher der Autorin erlaubt, die Identität und Motivation der jungen Frau noch eine Weile geheimzuhalten. Der Moment, in dem man später erfährt, wer die junge Frau auf dem Dach ist, die mit Ziegelsteinen wirft und nicht vom Dach herunter will, ist so gut gestrickt, dass sich doch ein gewisser Überraschungseffekt einstellt. Auch eine Art Spannung, die in diesem Fall nichts mit Spannungsliteratur zu tun hat, sondern nur mit der literarischen Spannung, die durch den ganzen Roman aufrecht bleibt.

Danach geht es weiter mit dem Tag vor dem Sprung. In abwechselnden Kapiteln werden verschiedene Protagonisten gezeichnet, ein Stilmittel, das oft rasch zu Ermüdungserscheinungen führen kann. Nicht so bei Simone Lappert. Ihr gelingt es scheinbar mühelos, den Leser mitzunehmen, auch wenn jedes Kapitel nur eine kleine Momentaufnahme aus dem Leben eines Protagonisten ist, der nur ein Teil dieses groß angelegten Porträts des Kleinstadtlebens ist.

Da ist Felix, Polizist, der bald Vater wird und sich in seiner Ehe, obwohl er seine Frau liebt, nicht wohlzufühlen scheint. Immer öfter schottet er sich von ihr ab und lässt auch im Beruf einiges schleifen. Im ersten Kapitel von Felix lungert er in Roswithas Lokal herum, findet mit seiner Frau Monique keine befriedigende Kommunikationsebene und wird zu einem Einsatz mit häuslicher Gewalt gerufen, weil sich der Familienvater mit einem Jagdgewehr im Wohnzimmer verschanzt hat.

Dann erlebt man Maren, die mit ihrem Aussehen und Gewicht unglücklich ist, was durch den Lebenswandel, den ihr Mann Hannes seit einiger Zeit vollzogen hat, noch verschärft wird. Maren tut alles, um ihrem Mann wieder zu gefallen, hat sich sogar ein Korsett besorgt, und stößt dennoch bei Hannes auf kalte Ablehnung. Sie möchte nichts mehr als die alte Leidenschaft zurückhaben und ist dafür sogar bereit, sich zu erniedrigen.

Dann ist da Egon, der Hutmacher, der ebenso seine Zeit in Roswithas Lokal verbringt. Und Henry, der als Obdachloser eine Schlafstelle im Park sucht und findet. Welche Zusammenhänge sich hier später ergeben werden, ahnt man noch lange nicht ...

Ein weiterer Protagonist ist Finn, der Zeit mit seiner neuen Freundin Manu verbringt. Sehr schön gelingt Simone Lappert die Zeichnung dieser jungen Liebe, die nicht weiß, wie Ungereimtheiten und Wünsche ausgesprochen, angesprochen oder gar ausgeräumt werden können. Finn ist Radkurier, Manu Gärtnerin, beide sind unsicher und von ihren Vorgeschichten gezeichnet.

Danach beginnt der Tag, an dem sich das Leben aller Beteiligten verändern wird. Auf ganz unterschiedliche Art und Weise.

Man lernt weitere Protagonisten kennen, so wie Theres und Werner, die einen kleinen Laden haben, der eigentlich längst nicht mehr rentabel ist. Die großen Geschäfte und Einkaufszentren haben die Kunden abgezogen, nur Werner will sich das nicht eingestehen. Ebenso lernt man Astrid kennen, die in einer scheinbar harmonischen Beziehung lebt, die nur durch die mühsame Schwiegermutter getrübt wird. Astrid will Bürgermeisterin von Freiburg werden, weshalb sie bedacht ist, jegliche Beeinträchtigung ihres guten Rufs zu vermeiden.

Und dann kippt alles, als die junge Frau auf dem Dach gesehen wird. Die Polizei rückt an, allen voran auch Felix, der sich bemüht, die junge Frau dazu zu überreden, vom Dach herunterzukommen. Niemand weiß, wer die junge Frau ist, bis Finn aufgrund eines Eilauftrags vorbeifährt und schockiert erkennen muss, dass es sich bei der jungen Frau um seine Freundin Manu handelt. So führt eines zum anderen, immer mehr Menschen finden sich am Platz ein, schauen zu, wollen dabei sein, wenn in ihrem kleinen Ort einmal etwas "Spannendes" passiert. Das hat zur Folge, dass Werners Laden das Geschäft schlechthin macht, jeder will versorgt sein, wenn er darauf wartet, dass die Frau springt.

Während versucht wird, Manu dazu zu überreden, vom Dach herunterzukommen, führt Simone Lappert weitere Protagonisten ein, die ihren Teil zur Geschichte beitragen, wie die Schülerin Winnie, die von allen gehänselt und am Ende mit der Klassenprinzessin befreundet sein wird, oder auch Ernesto, den italienischen Modeschöpfer, der auf der Suche nach der letzten, zündenden Idee für seine neue Präsentation ist und beim Durchschalten durch die italienischen Fernsehkanäle zufällig bei den Nachrichten und dem Beitrag aus Thalbach landet, in dem er den von Finn vergessenen Filzhut sieht, den Egon hergestellt hat. Daraufhin macht er sich auf den Weg nach Thalbach, um den Erzeuger des Huts kennenzulernen. Maren bricht aus ihrer Ehe aus, und Astrid stellt sich als die Schwester Manus heraus. Zwischen diversen Personen gibt es uneheliche Verbindungen, Freundschaften festigen sich, Ehen zerbrechen, und Felix erzählt in seiner Erschöpfung Roswitha von seinem Kindheitstrauma, das ihn bisher davon abgehalten hat, sich auf sein Kind zu freuen.

Es passiert so vieles in diesem wundervollen Roman, dass all das, was der Rezensent bisher angeführt hat, nur ein kleiner Bruchteil dessen ist. Wer an dieser Stelle daran zweifelt, dass das in einem Roman von 334 Seiten zusammengehen kann, hat gar nicht so unrecht. Allerdings ist es Simone Lapperts herausragendem Talent und Können zuzuschreiben, dass dieses überbordende Konstrukt als Ganzes funktioniert. Die Autorin schafft es auch, trotz auktorialer Erzählperspektive, allen Figuren eigene Stimmen zu verleihen. Es ist eine wahre Lesefreude, den verschiedenen Lebenslinien zu folgen, während es nie langweilig oder konstruiert wirkt. Auch wenn, was ganz natürlich ist, manche Geschichten überzeugender sind als andere (der italienische Modeschöpfer fällt aus der Rolle, ist aber quasi als Legitimation einer anderen Figur notwendig), überzeugt "Der Sprung" auf ganzer Linie. Simone Lappert zeigt, wie wenig es manchmal braucht, um richtungsweisende Veränderungen im Leben auszulösen, und ebenso, dass das Leben, trotz vermeintlicher Todessehnsucht, noch immer den stärkeren Willen hat.

(Roland Freisitzer; 09/2019)


Simone Lappert: "Der Sprung"
Diogenes, 2019. 334 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Simone Lappert, geboren 1985 in Aarau in der Schweiz, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2014 erschien ihr Debütroman "Wurfschatten", der auf der Liste des "aspekte-Preises" stand. Sie wurde mit dem "Wartholz-Preis" als beste Nachwuchsautorin ausgezeichnet, ist Präsidentin des "Internationalen Lyrikfestivals Basel" und Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt "Babelsprech.International". Sie lebt und arbeitet in Basel und Zürich.