Andrej Kurkow: "Graue Bienen"


Bienenzüchter in der Grauen Zone zwischen der Ukraine und der selbsternannten Volksrepubik Donezk

"Etwas im Land ging zu Bruch, dort in Kiew, wo immer irgendetwas nicht in Ordnung war. Es ging derart zu Bruch, dass schmerzhafte Risse durch das Land liefen wie durch Glas, und aus diesen Rissen floss Blut. Der Krieg begann, dessen Sinn nun schon seit drei Jahren für Sergejitsch schleierhaft blieb." (S. 31)

Dereinst, hoffentlich möglichst bald, werden wir Genaueres über die Geschehnisse, die zu den Schüssen auf dem Maidan, dem gewaltsamen Machtwechsel in der Ukraine und den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der ukrainischen Armee und russischsprachigen Separatisten im Osten des Landes geführt haben, wissen.
Viel klarer und fassbarer erweist sich indessen der Frontverlauf, und ebendort, in einem kleinen, Malaja Starogradowka genannten Dorf mitten in der Grauen Zone beginnt Andrej Kurkows neuer, brisanter Roman.

Von den wenigen hundert Einwohnern des Dorfes sind zu Beginn des dritten Kriegswinters genau zwei übriggeblieben, alle anderen längst geflüchtet, etliche Männer direkt zu den Separatisten übergelaufen, die zwei Dorfbeamten zur ukrainischen Armee. Schon vor dem Krieg bestand das Dorf aus lediglich zwei längeren Straßen (und einem kleinen Verbindungsweg), und da es sich bei den Übriggebliebenen pikanterweise um sogenannte "Kindheitsfeinde" handelt, ist es ihnen nicht unrecht, dass der eine, Paschka, in der Schewtschenkostraße, der andere, Sergejitsch, aus dessen Perspektive durchgängig erzählt wird, in der Leninstraße wohnt. Angewiesen sind die beiden in dieser Extremsituation nicht nur auf eine große Vorratskammer an haltbaren Lebensmitteln und vorwinterliche Kohlelieferungen von Baptisten (eine der vielen Widersinnigkeiten, die der Konflikt mit sich gebracht hat), sondern immer mehr auch aufeinander, was ihnen im ersten Buchdrittel so einiges an Überwindung und Pragmatismus abverlangen wird - wenigstens hier scheint der Krieg auch sein Positives zu haben.

Sergejitsch ist neunundvierzig, wegen seiner Staublunge frühpensionierter Arbeitsinspektor in den Donbasser Kohlegruben und seit vielen Jahren alleinlebend - der Frau war es hier anscheinend allzu ländlich, und die kleine gemeinsame Tochter hat sie mitgenommen. Zwar muss Sergejitsch überdies den Ausfall des Fernsehers verkraften, denn Strom gibt es längst nicht mehr, ein Kohleofen dient als Wärmespender und Herd, hat sich jedoch rasch an sein nicht ungefährliches, stromloses und recht einsames Leben gewöhnt, einen neuen Lebensrhythmus gefunden. In einer Reihe mit vielen typisch Kurkow'schen Helden befindet Sergejitsch sich durch seine besondere Beziehung zu Tieren, der Frühpensionierte ist nun nämlich Imker mit Herz, Seele und einem extremen Verantwortungsgefühl gegenüber seinen geflügelten Schützlingen ausgestattet. Die Vorstellung, dass Bienen, gleichgültig ob Königinnen oder Drohnen, durch seine Schuld ums Leben kommen könnten, ist ihm unerträglich, sodass er, als endlich der Frühling naht und die Wiederöffnung seiner sechs, einstweilen mit Stahlplatten vor leider nicht auszuschließenden Granatsplittern geschützten Bienenstöcke bevorsteht, gleichzeitig jedoch die Kämpfe in der näheren Umgebung an Heftigkeit zunehmen, beschließt, für die Dauer der warmen Jahreszeit dem Dorf Adieu zu sagen, die Bienen über friedlicherem Boden Nektar sammeln zu lassen.

Nachdem er verschiedene Grenz- und Sicherheitskontrollpunkte erfolgreich passiert hat (der Rat des erfahrenen Paschka: wenn sie pöbeln, zurückpöbeln und auf seinem Recht bestehen, wenn einer zur Kalaschnikow greift, sich entschuldigen und auf die wegen des Beschusses schlechten Nerven verweisen), fährt er noch ein gutes Stück Richtung Südwesten, um sich in der Nähe eines abseits und ruhig wirkenden Dorfes niederzulassen und den Bienen endlich ihre Flüge zu ermöglichen. Rasch freundet er sich mit der Verkäuferin des örtlichen Lebensmittelgeschäfts an, welche Honig im Tausch gegen Wurst, Brot und dergleichen annimmt (überhaupt erweisen sich die gefüllten Honiggläser, die Sergejitsch mit sich führt, als gutes, dollarvergleichwürdiges Zahlungsmittel). Zwar stößt er hier und da auf Vorbehalte gegenüber dem Saisonflüchtling aus dem Donbass, trotzdem lebt er sich nach und nach ein, bis auf einmal ein ihm übel schmeckendes Ereignis und unangenehme Erfahrungen mit dem ukrainischen Nationalismus seine rasche Weiterfahrt nahelegen.

Und weil es von dort zu einer weiteren Grenze und auf die andere Seite der die Großregion bestimmenden Polarität nicht mehr weit ist, macht der Held als nächstes auf der Halbinsel Krim halt, für die er von den russischen Behörden (nachdem er zuvor weitgehend vermieden hat, sich für propagandistische Zwecke einspannen zu lassen) eine auf drei Monate befristete Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt bekommt. Diesmal findet er ein Plätzchen nahe einem von Krimtataren bewohnten Städtchen, lässt alsogleich die Bienen ihrem Lebenssinn nachgehen und lernt seinerseits die tatarische Familie eines alten Imker-Kollegen näher kennen. Auch hier wird er manch unliebsame Erfahrung machen, manchen Missstand (insbesondere den bisweilen schikanösen Umgang der Obrigkeit mit der krimtatarischen Minderheit) zu sehen bekommen.
Indessen allgemeiner gilt: "Die Staatsmacht verhöhnt die Leute wie früher! Nur ist jetzt noch der Krieg dazugekommen." (angesichts einer langen Menschenschlange bei der Ausgabe biometrischer Pässe)

Bei alledem erweist sich der Held (zuallermeist bei Kurkow, so auch hier) als ruhiger, aufmerksamer, manchmal ein bisschen naiver Typ, der Würde, Menschlichkeit und Eigenständlichkeit weniger als Transparente vor sich herschwenkt, sondern sie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit (erzählt in sehr irdischer, dem Schrittweisen Tribut zollender Prosa) zu leben sucht, obwohl die Umstände oft alles andere als ideal sind. Anders gesagt werden diese Tugenden gerade dadurch herausgefordert, angeregt, auf die Probe gestellt, auf konkrete Ziele gelenkt und vor innere und äußere Schwierigkeiten gestellt; dabei mit dem Helden mitzufühlen, macht einen wesentlichen Reiz des Romans (Kurkow'scher Romane) aus.

Die Kritik Kurkows an diversen Fehlentwicklungen und Schieflagen gilt etwas mehr der russischen als der ukrainischen Seite, was mit dem Grundpatriotismus des Autors zu tun haben mag oder mit der Maxime, dem stärker Scheinenden mehr Kritik zuzumuten, nicht zuletzt gewiss auch mit dem überaus heiklen Unterfangen, während ein Ende des gefährlichen Konfliktes noch nicht in Sicht ist, den Zustand der gleichsam entzweigespaltenen Gesellschaft, den Separatismus und andere Strömungen in einem Roman zu thematisieren (zumal als ukrainischer Staatsbürger in russischer Sprache). Der Geist der Versöhnlichkeit findet sich in "Graue Bienen" ebenso wie ein genauer, unvoreingenommener Blick auf manches Übel, und zwischen den Zeilen Empfehlungen, Warnungen und die Hoffnung, Vernunft möge Einkehr halten und sich alles, oder zumindest das Fundamentale, zum Friedlichen wenden.

"Die Weisheit der Natur - das war es, was Sergejitsch begeisterte. Überall, wo sich für ihn die Weisheit der Natur zeigte, verglich er sie mit dem Leben der Menschen und kam zu dem Schluss, dass die Menschen einpacken konnten." (S. 406)

(fritz; 07/2019)


Andrej Kurkow: "Graue Bienen"
(Originaltitel "Серые пчелы")
Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing.
Diogenes, 2019. 416 Seiten.
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