Michel Houellebecq: "Serotonin"


Ein moderner Struwwelpeter für Erwachsene im Rausch der Glückshormone?

Für Wirbel sorgt er verlässlich, der am 26. Februar 1956 (oder 1958) als Michel Thomas auf der Insel La Réunion geborene französische Schriftsteller, den manche Kritiker seit vielen Jahren nur zu gern als "Skandalautor" schubladisieren und somit mundtot gemacht sehen möchten. Doch liefert unsere Zeit - des Einen Freud', das Anderen Leid - Skandale am laufenden Band, sodass es nur der Fabulierlust eines aufmerksamen, sensiblen Menschen bedarf, und schon ist ein neuer "Skandalroman" servierfertig. Houellebecq, ebenso prominent wie umstritten, gehört zu den wenigen Schriftstellern, die nicht kleinlaut-großmäulig mit den Wölfen heulen, nicht bieder aktuelle Themen nach zeitgeistgefälligen Kriterien abhandeln, er behält sich vielmehr jederzeit das Recht auf eine eigene Sichtweise und deren Veröffentlichung vor. Nicht von ungefähr wurde sowohl um Titel als auch Inhalt des eilig übersetzten und Anfang Jänner 2019 auch auf Deutsch erschienenen Romans "Serotonin" eine Geheimniskrämerei sondergleichen veranstaltet; die gut geölte Marktmaschinerie folgt bekanntlich eigenen Gesetzen.
Houellebecq schielt nicht vordergründig auf mediale Sympathiewerte, lechzt nicht nach leichtfertiger Zustimmung, das Strohfeuer der Meinungseinfältigen ist ihm einerlei. Das ist radikal, das hat Biss, das zwingt bei nicht nur oberflächlicher Lektüre zu genauem Nachdenken, ganz anders als die charakterlahmen Zeitklagen vieler seiner Zunftkollegen. Dass er mit seinen polarisierenden Schriften immer wieder Aufsehen erregt, kann uns allen nur recht sein, um das eigenständige Denken salonfähig zu erhalten. 

Im Zentrum seines neuesten, in naher Zukunft (dadurch kenntlich gemacht, dass Macron kein Thema mehr ist) spielenden Romans steht wieder einer seiner typischen Antihelden, der Rückschau auf sein Leben, das heißt, sein Berufs- und Liebesleben, hält, dabei von Anfang an klarmachend, dass er sich selbst als gescheitert, besiegt ansieht. "Die Virilität, die mein quadratisches Gesicht mit seinen klaren Kanten, meine scharf geschnittenen Züge auszustrahlen schienen, war nichts weiter als eine Illusion, ein reiner Schwindel", eigentlich war er "nie irgendetwas anderes gewesen als ein substanzloses Weichei, und nun bin ich schon sechsundvierzig Jahre alt". Nicht nur die Klage, die ganze Figur (Florent-Claude heißt er übrigens, was ihm gar nicht gefällt: viel zu feminin, noch dazu das Einzige, was er seinen verstorbenen Eltern vorwerfen könnte) ist tragikomisch gezeichnet, vom Lächerlichen zum Existenziellen, vom Empathischen zum Misanthropen reicht sein Repertoire, daneben verfügt er über eine Beobachtungsgabe von einer Schärfe, die den Verdacht nahelegt, sie sei, ebenso wie die daraus abgeleiteten, herrschenden Meinungen sehr deutlich widersprechenden Beurteilungen, dem Schriftsteller selbst zuzurechnen. Im übrigen interessiert Houellebecq an seinen Figuren weniger das Charakterlich-Individuelle als das Allgemeine, Sozialisierung, Milieu, Stellung im Beruf, Rollenbilder, um sie in den verschiedensten Szenarien zu erproben und etwaige Unstimmig- und Widersprüchlichkeiten aufspüren zu können.

Die meisten Umstände Florents sind recht gewöhnlich: Krise eines Mannes in den mittleren Jahren, eine Reihe von gescheiterten Frauenbeziehungen, Stagnation in der Arbeit - da setzt Florent in seiner tiefen Lustlosigkeit einen radikalen Schritt. Er zieht einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben, verlässt seine letzte Freundin, kündigt seine Arbeit als Fachmann im Landwirtschaftsministerium und mietet sich gestützt von der hübschen Summe, die er von seinen Eltern geerbt hat, in einem Hotel mit Rauchmöglichkeit in einem Pariser Stadtteil, mit geringer Wahrscheinlichkeit, einem unerwünschten alten Bekannten über den Weg zu laufen, ein. Und greift, an Serotoninmangel leidend, bald zu Captorix, dem neuesten Schrei auf dem Antidepressivamarkt, bei welchem der hohe Serotoningehalt nicht mehr erhöhtes Selbstmordrisiko, wohl aber stark verminderte Libido und Impotenz zur Folge haben kann (und gar nicht leicht abzusetzen ist).
Ob nun, weil wegen der täglichen Tabletten mit neuen Damenbekanntschaften nichts läuft, aus Analysebedürfnis oder einer irrationalen Hoffnung heraus, Florent beschäftigt sich nicht nur in der Erinnerung mit seinen wichtigsten Verflossenen, sondern unternimmt schließlich den Versuch, manche von ihnen wiederzusehen. Hier entfalten sich ein paar Liebesgeschichten mit sehr unterschiedliche Frauentypen, zahlreichen Sex-Episoden (zum Teil wohl, wie manches andre auch, als Spiel des Schriftstellers mit den Selbstverständlichkeiten des Lesers), dem unbeirrten Glauben an die Liebe und gewissen, denkbar unspektakulären Einsichten in des Antihelden Verfehlungen. 

Wiedersehen will Florent auch seinen alten (und eigentlich einzigen männlichen) Freund Aymeric, seinen ehemaligen Kommiltonen auf der landwirschaftlichen Fachhochschule, den er schon in besseren Tagen auf dessen Bauernhof nahe dem Ärmelkanal besucht hat, doch nun in deutlich verschlimmertem Zustand vorfindet. Und privater Probleme nicht genug, bahnen sich gerade gewerkschaftliche Proteste gegen die gefallenen Milchpreise, bahnt sich ein schwerer Konflikt zwischen den Bauern, hinter denen die ländliche Bevölkerung steht, und der Obrigkeit an. Aymeric, ein Idealist, hält zahlreiche Normandie-Rinder, eine edle heimische, aber weniger rentable Rasse, artgerecht und mit Bio-Siegel-Futter, was bei den spärlichen Förderungen ein reines Verlustgeschäft ist, sodass er sich immer wieder Parzellen seines ausgedehnten ererbten Grundbesitzes zu verkaufen genötigt sieht. Anhand seiner verfahrenen Situation und des Fachwissens von Florent (der weiß, dass in Brüssel schon über eine Aufhebung der Milchquote und eine Drittelung, wenn nicht Viertelung der Milchbauernanzahl diskutiert wird, oder dass für Monsanto oft schon der Hinweis auf die Ernährungsbedürfnisse einer stetig wachsenden Erdbevölkerung ausreicht, gegnerische Argumente im Keim zu ersticken) zeigt Houellebecq einige Fehlentwicklungen der französischen Landwirtschaft (bzw. jener der  EU) und Widersprüche zu anderen vorgeblichen Werten und Zielen auf. "Aber je mehr ich alles korrekt zu machen versuche, desto schlechter komme ich über die Runden", lautet das niederschmetternde Fazit Aymerics. Und Florent befindet über das Verhältnis Geld-Arbeit: "das Geld hatte niemals die Arbeit abgegolten, es stand streng genommen in gar keinem Bezug dazu, keine menschliche Gesellschaft war jemals auf Arbeitsausgleich aufgebaut worden, und selbst die künftige kommunistische Gesellschaft hatte nicht auf diesen Grundlagen ruhen sollen, das Prinzip der Vermögensverteilung war von Marx auf die völlig inhaltslose Formel 'Jedem nach seinen Bedürfnissen' zusammengestrichen worden, die zu endlosen Streitereien und Wortklaubereien geführt hätte, hätte man sie durch unglückliche Umstände in die Praxis umzusetzen versucht".
Und ein Zitat noch zum erweiterten Landwirtschaftsthemenkreis (und stellvertretend für alle in dem Buch Geohrfeigten, das Land Holland, die Stadt Paris, fanatische Leinsamenesser und Anti-Raucher, exzessive Mobiltelefon- und Hotelbadezimmerbenutzer und manche mehr): 
"Spanien war eines der liberalistischsten und verantwortungslosesten Länder, was den Umgang mit genetisch veränderten Organismen betraf."
Und so viel Zeit soll immer sein, in aller Ruhe auf die heilige normannische Käsedreifaltigkeit ("die drei Fürsten der Normandie") hinzuweisen: Camembert, Pont-l'Éveque, Livarot.

Houellebecq macht sich in seinem sorgfältig recherchierten Roman ernsthafte Sorgen über den Zustand Frankreichs und der Franzosen in einer immer stärker von Globalismus und mächtigen Großkonzernen bestimmten Welt und weist dabei nachdrücklich, unermüdlich und beredt darauf hin, dass dieser Geist kein seliger ist, zumindest dann, wenn man ihn an Kriterien wie individuellem psychischen Wohlbefinden, gemeinschaftlichen kulturellen Hervorbringungen und gesunder Ernährung misst. 

(fritz; 02/2019)


Michel Houellebecq: "Serotonin"
(Originaltitel "Sérotonine")
Aus dem Französischen von Stephan Kleiner.
DuMont, 2019. 336 Seiten.
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