Ariana Harwicz: "Stirb doch Liebling"


Ein literarisches Ereignis

Der Debütroman "Stirb doch Liebling" ist im Original bereits 2012 erschienen. 2018 war er in englischer Übersetzung für den "Man Booker International Prize" nominiert und da ein Geheimfavorit, auch wenn am Ende Olga Tokarczuks "Unrast" (soeben bei "Kampa" in einer Neuauflage erschienen) den Sieg mitnehmen durfte. Nun ist "Stirb doch Liebling" endlich auch auf Deutsch erschienen und liegt in vielen Buchhandlungen fälschlicherweise in der Kriminalliteratur-Abteilung auf.

"Ich legte mich auf das Gras zwischen umgestürzten Bäumen, und die Sonne, die auf meiner Handfläche brannte, gab mir das Gefühl, ein Messer zu halten - ein flinker Schnitt in die Halsschlagader, und ich werde verbluten. Hinter mir, vor der Kulisse eines leicht heruntergekommenen Hauses, hörte ich die Stimmen von meinem Sohn und meinem Mann. Beide nackt, planschen sie in dem blauen Plastikbecken, das Wasser bei fünfunddreißig Grad."

Dieser spektakuläre Beginn versetzt den Leser in die Gedankenwelt der Protagonistin, die, wie sich langsam und Schritt für Schritt herausstellt, irgendwo in einer Provinz lebt. Vielleicht in Frankreich, genau weiß man es nicht. Nicht zu überlesen ist die Tatsache, dass sich die junge Frau hier unwohl fühlt. Sie befindet sich in einer Welt, die nicht die ihre ist. Anhand dessen, was man liest, könnte man meinen, dass sie dabei ist, durchzudrehen. Oder geistesgestört ist. Zumindest manchmal.

Hin und her wechseln ihre Beobachtungen und Gedanken. Zwischen solchen, die auf liebende Mutter und zuvorkommende Ehefrau hindeuten, und solchen, welche die Vermutung stärken, dass sie ihre Familie demnächst komplett zerstören könnte. Mit einer Axt oder einem Gewehr. Die Zerstörungsfantasien, die da durchschimmern, sind bedrohlich und auch nachvollziehbar. Das ist das wirklich Spannende an diesem Roman, dieser Sog, der den Leser tief ins Innere der Protagonistin saugt, sodass man Teil von ihr wird, da ist alles nachvollziehbar und verständlich. Auch wenn es auf den ersten Blick schockierend anmutet.
"Aus dem Boden habe ich tausend und ein Mal das Gras gerupft, das Grün und das Gelb in meiner Hand vermischt, die Erde und die Würmer. Eine schöne Palette für ein makabres Gemälde. Ich rupfte und rupfte voller Erregung. Aber es beruhigte mich nicht. Ich rannte zum Haus und warf im Zimmer den antiken Holzstuhl gegen den Spiegel und brach mit einem Schlag die Schranktür heraus, mit einem weiteren den Fensterflügel. Meine Eierstöcke verkrampfen sich, und im Slip habe ich einen Blutklumpen, der mir die Beine hinunterglitscht. Das ist keine neue Schwangerschaft, glaube ich, das ist Wut."

Da gibt es die spießigen Verwandten ihres Mannes, die in ihr, der Ausländerin, eine ewig Fremde sehen. Eine Minderwertige auch. Da gibt es das Dorf und seine Einwohner, die eine Spießigkeit besitzen, die frisch und gar nicht klischeehaft vermittelt wird. All das könnte Grund für ihre psychischen Verwirrungen sein, andererseits, vielleicht auch nicht. Ariana Harwicz lenkt den Leser virtuos durch ein literarisches Labyrinth, das seine Geheimnisse nie ganz enthüllt. Auch am Ende, das sei hier verraten, bleibt vieles offen. Was allerdings klar im Vordergrund steht, ist das sukzessive Scheitern einer Ehe, das man hier so detailliert und aufgebreitet erlebt, dass es fast weh tut.

Da wechseln sich vermutete und wirkliche Seitensprünge ab, der falsche Schein der Harmonie wird so lange aufrecht erhalten, wie es das lose Sandfundament erlaubt. Bis die ersten Körnchen nachgeben und alles in sich zusammenbricht. Ein weiterer, ganz starker Moment dieses Romans ist die beklemmende Situation, Fremde zu sein, zu wissen, dass man, egal wie sehr man sich Mühe gibt, nie dazugehören wird. Auch das transportiert dieser wundervolle, wenn auch mitunter sehr komplexe Text auf bestechende Art und Weise. Erotische Obsessionen, aus einer Wut heraus geboren, mutieren zu gefährlichen Wutszenarien, die radikal und schonungslos große Literatur entstehen lassen.
"Er ist ein Höhlenmensch mit hängendem Haar, die Knie zu einem Bogen gespreizt, ein Primat. Ich weiche zurück und falle in eine Grube. Der Schlamm beseitigt meine Weiblichkeit. Der Mann zielt auf meine Beine. Er möchte den Eindringling köpfen, um sich als großer Bock zu fühlen. Ein Familienvater. Um vor der Höhle zu brüllen. Er berührt meinen Unterleib mit der Stange und bohrt sie in mein schlaffes Fleisch. In der Grube liegend, wünsche ich nichts, als meinen Rock in einem Zimmer auszuziehen, das auf den Fluss geht oder von dem aus man den Fluss über spitzige Felsbrocken heranrauschen hört. Meine Beine auf denen des großen, knochigen Kindsvaters, den Rock auszuziehen und den Slip auf sein Gesicht setzen, das Becken auf seine Brauen."

Dagmar Ploetz hat diesen Roman kongenial übersetzt, zumindest muss man das annehmen, weil er in keiner Wendung, keinem Satz, keiner Phrase wie eine Übersetzung wirkt. Ein unterhaltender Roman ist "Stirb doch Liebling" wahrlich nicht, diese einhundertdreiunddreißig Seiten muss man sich erkämpfen, genauso hart wie die Protagonistin gegen ihr Schicksal ankämpft. Das Resultat ist faszinierend, erfrischend und überwältigend, ebenso wie dieser Roman wirklich originell und neu ist. Man kann nur hoffen, in näherer Zukunft weitere Werke von Ariana Harwicz in deutscher Sprache lesen zu dürfen. Dem Verlag "C.H. Beck" gebührt ein riesengroßes Dankeschön für diese Entdeckung.

(Roland Freisitzer; 04/2019)


Ariana Harwicz: "Stirb doch Liebling"
(Originaltitel "Matate, amor")
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
C.H. Beck, 2019. 133 Seiten.
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Ariana Harwicz, geboren 1977 in Buenos Aires, ist eine der wichtigsten Autorinnen Argentiniens und lebt in Frankreich. Sie studierte Film- und Theaterwissenschaften in Argentinien und Performance und Komparatistik und ist Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin. "Stirb doch Liebling" machte sie schlagartig international bekannt und wurde von der argentinischen Zeitung "La Nación" als Roman des Jahres ausgezeichnet.