Margaret Atwood: "Die Zeuginnen"


Die Fortsetzung von "Der Report der Magd"

Anno 1985 saß Margaret Atwood etwa eine Woche lang in einem Hotel in West-Berlin, in der Nähe der Mauer, und hatte einen relativ guten Ausblick auf das "andere" Deutschland, das seine eigene Bevölkerung gefangenhielt, um sie vor den schädlichen Einflüssen des Westens zu schützen. Flüchtlinge wurden erschossen, und in den Gefängnissen der allgegenwärtigen Staatssicherheit wurden Verhöre unter Foltermethoden bis zum Tod durchgeführt. Doch nichts an diesem System war neu - es war einfach eine Fortentwicklung von staatlichen Kontrollmethoden, wie sie den Menschen bereits seit Jahrtausenden bekannt sind.

Mit diesem Anblick und den Erfahrungen mit religiösen und misogynen Fanatikern in dem Nachbarland der kanadischen Autorin machte sich Margaret Atwood daran, einen Roman zu schreiben, in dem diese staatlichen Kontrollmechanismen in einem religiös beherrschten ehemaligen Amerika nach einigen Natur- und Industriekatastrophen und terroristischen Anschlägen, die unter Anderem die Regierung ausgelöscht haben, zur Perfektion getrieben worden sind:
"Der Report der Magd", ein Roman, der einschlug wie eine Bombe und mittlerweile an vielen Schulen und Universitäten zurecht zur ständigen Leseliste gehört. Es folgten zwei ziemlich fragwürdige Verfilmungen und die mit Atwoods Beratung entstandene Fernsehserie "A Handmaid's Tale", die bereits mehrere Preise erhalten hat und deren Bildsprache inzwischen weltweit bei Protesten für Frauenrechte mit Teil der Fernseh- und Pressebilder geworden ist.
Nun, 34 Jahre später, ist die Fortsetzung der Erzählungen aus Gilead, dem neuen, alttestamentarisch inspirierten Gottesstaat, erschienen.

Fünfzehn Jahre nach den Ereignissen in "Der Report der Magd" besteht der Staat Gilead immer noch, und die ersten Mädchen, die dort geboren worden sind, erreichen ein Alter, in dem sie ihren jeweiligen Positionen in dieser Gesellschaft zugeordnet werden sollen. Mädchen, die nicht lesen und schreiben lernen durften, und auch die Mathematik ist ihnen weitestgehend fremd, Landkarten sind für sie unverständliche Bilder, und Gebete, Hymnen und regelmäßige Teilnahmen an öffentlichen Hinrichtungen bestimmen ihren Alltag.

Eines dieser Mädchen, die Zeugin 369A, im realen Leben Agnes genannt, ist bisher als Tochter eines Kommandanten aufgewachsen und musste gerade den Tod ihrer Mutter verkraften. Nun ist mit Paula eine neue Gemahlin im Haus, die das Kind einer Anderen ungefähr genauso schätzt, wie ein neuer König eines Löwenrudels den Nachwuchs seines Vorgängers. Und so sieht Agnes nicht nur ihren Status in der Schule schwinden, sondern auch einer baldigen Verheiratung entgegen, der sie auf eher unerwartete Weise entkommt.

Weiters tritt Zeugin 369B auf, auch bekannt als Daisy, die als Tochter zweier politisch aktiver Gebrauchtkleidungshändler aufwächst und in Kanada in der Schule viel über die Schrecken des Lebens in Gilead gelernt hat.
Kurz nachdem sie an einer Demonstration gegen die Zustände im fanatischen Nachbarstaat teilgenommen hat, kommen die Eltern durch eine Autobombe um, und auf einmal sieht sich die junge Frau in der Obhut von "Mayday", jener Organisation, die Frauen aus Gilead herausschmuggelt und für die ihre Eltern anscheinend tätig waren. Daisys Leben wird sich dadurch grundlegend verändern ...

Tief in der Bibliothek des Hauses der Tanten in Gilead ist es Tante Lydia selbst, die ein heimliches Tagebuch schreibt, in dem sie davon berichtet, was sie vor der Einrichtung Gileads getan hat, wie sie diese Entstehung einer religiösen Diktatur erlitten hat, und wie sie es dann geschafft hat, ihre jetzige sehr wackelige Machtposition zu erlangen. Gerade durch ihren Bericht erhält der Leser viele Hintergrundinformationen und lernt vor allen Dingen auch ihre Motive kennen. Und ihre Ziele.

Wie schon im ersten Buch und in der Fernsehserie wird auch in "Die Zeuginnen" nichts präsentiert, was es nicht irgendwo auf der Welt - oder auch in der Menschheitsgeschichte allgemein - schon gibt bzw. gegeben hat. Durch die drei Reflektionsfiguren Agnes, Daisy und Lydia bekommt man ein noch umfassenderes Bild, als man dies etwa zur Mitte der zweiten Staffel der Fernsehserie haben kann, und aufgrund der Unterschiedlichkeit der Perspektiven auch viele Anreize, bestimmte Vorurteile und Vorüberlegungen, die man beim Lesen entwickelt, immer wieder zu hinterfragen.

Fazit:
Ein überaus würdiger Nachfolger des Ursprungswerks.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2019)


Margaret Atwood: "Die Zeuginnen"
(Originaltitel "The Testaments")
Übersetzt von Monika Baark.
Berlin Verlag, 2019. 576 Seiten.
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