Stephan Thome: "Gott der Barbaren"


Stephan Thomes neuester Roman "Gott der Barbaren" ist der erste, der Mitteleuropa und unsere Gegenwart verlässt. Dass er ins 19. Jahrhundert zurückgeht, und dann gleich auch noch nach China, ist jedenfalls ein Glücksfall, weil es zeigt, wie wandelbar und vielseitig Thomes Prosa doch ist.

Während "Gott der Barbaren" einerseits ein historischer Roman ist, der auch wahre Begebenheiten beinhaltet, ist er dennoch viel mehr, weil er zeigt, wie ein Riesenreich in einer Umbruchsphase die Orientierung verlieren kann. Da der Rezensent keine diesbezüglichen Aussagen des Autors gelesen oder gehört hat, kann er nur vermuten, dass Thome dabei indirekt von Europa erzählt, wo diverse Gruppierungen ebenso wie damals in China fanatisch an der Implosion arbeiten.

Aber vordergründig beschäftigt sich der in Taiwan lebende Sinologe Stephan Thome mit den Opiumkriegen, die durch die Öffnung Chinas für den Handel durch die Briten gegen Mitte des 19. Jahrhunderts ausgelöst wurden. Interessant ist auch, dass man meint, zwischen den Zeilen immer wieder Relationen, Gedanken und Überlegungen zum China von heute zu finden. Auch das natürlich eine Vermutung, die von Thome, falls überhaupt, sehr dezent genährt wird.

Einige der agierenden Figuren sind historisch belegt, wie beispielsweise der deutsche Missionar Karl Gützlaff, der allerdings auch ein ziemlicher Betrüger war, der Unterhändler des Kaisers von China, Prinz Gong, sein Halbbruder, und Hong Xiuquan, der Anführer der Taiping-Rebellen. Nicht alle haben tragende Rollen, manche bleiben quasi historische Figuren, deren Rolle nur von außen beleuchtet wird. Die Handlung des Romans wird zum Großteil natürlich von fiktiven Figuren getragen, allen voran dem jungen Philipp Johann Neukamp, der aus dem Märkischen, über Einladung von Gützlaff, nach Hong Kong kommt, wo er feststellen muss, dass er einem Betrüger aufgesessen ist. Er erhält Kontakt mit den Basler Missionaren und versucht sich als Missionar. Eine Tätigkeit, die er allerdings nicht wirklich im Sinn seines Dienstgebers ausführt. Sieben Jahre später tut er sich mit dem Verständnis Chinas noch immer so schwer wie am Anfang.
"Meine deutsche Heimat zerfällt in unzählige Fürstentümer, aber in den Köpfen lebt die Idee eines Volkes, das sich zur Republik zusammenschließen will. China dagegen besteht seit Jahrhunderten als ein Reich, und trotzdem glaubt niemand an die Existenz eines chinesischen Volkes."

Ein ebenso wichtiger Protagonist ist der Brite James Bruce Earl of Elgin, genannt auch "Vizekönig von Indien". Seine Aufgabe könnte man ungefähr dahingehend interpretieren, dass er dafür zuständig war, den Kaiser von China zur Einräumung diverser für England günstiger Zugeständnisse, Verträge und Genehmigungen zu bewegen. Eine Aufgabe, die er recht erfolgreich im Dienst der britischen Krone erledigt hat. Dafür erntet er in England auch Kritik, unter Anderem vom berühmten Earl Grey, der die Idee, dass britische Staatsbürger im Dienst der Krone Opiumhandel betrieben, verabscheuungswürdig fand. Thome fügt in seinem Roman unter Anderem auch Auszüge aus Reden des Earl Grey ein, welche die Zerrissenheit angesichts der Tätigkeit der Briten in China zeigen.

Wenn also die deutschen Missionare, britischen Diplomaten und Unterhändler des Kaisers zumeist scheinbar wirr durch die Seiten dieses fabelhaften Romans torkeln, so hat das auch einen tiefergehenden Sinn. Sie bewegen sich ebenso führer- und sinnlos durch diese Erzählung, wie ihre Rollen fehl am Platz sind und waren. Auch da könnte man einen Zusammenhang mit der heutigen Zeit finden, wo man Länder und Gebiete auf "westliches Niveau" bringen möchte, was ebenso zu sinnlosem Blutvergießen und letztendlicher Entwurzelung von Millionen von Menschen führt.

Eine wichtige Rolle spielen natürlich die Taiping-Rebellen. Sie sind Chinesen vom Stamm der Hakka und waren "missioniert". Allerdings hatten sie ein sehr freies Verständnis der Bibel, die sie sich nach eigenem Belieben umgeschrieben hatten. Ihr ranghöchster Führer nannte sich beispielsweise "Himmlischer König" und sah sich als Sohn Gottes und jüngerer Bruder von Jesus Christus. Sie kämpften gegen den chinesischen Kaiser. Dieser Taiping-Aufstand dauerte sechs Jahre und gilt heute noch immer als der Bürgerkrieg mit der höchsten Zahl an Todesopfern. Er soll 30 Millionen Menschen das Leben gekostet haben.

Es ist beeindruckend, wie virtuos Stephan Thome mit der Form seines wuchernden Romans umgeht. Das ist gleichzeitig beeindruckend und fordernd, weil schon allein die Vielzahl von Erzählsträngen, Figuren und Einschüben oft hart an der Grenze der Zusammengehörigkeit schrammen. Nichtsdestotrotz, gerade das macht diesen Roman so außergewöhnlich. Große Vorhaben fordern naturgemäß auch groß angelegte Lösungen. Thomes Prosa fungiert hier in ihrer Vielfalt und sinnlicher Beschreibungslust als gemeinsamer Nenner, der diesen überbordenden Roman erfreulich beglückend macht. Ebenso beeindruckend ist, wie der Autor es schafft, China im 19. Jahrhundert zu zeichnen, glaubhaft und immer überzeugend. Nie hat man auch nur annähernd das Gefühl, einen Satz zu lesen, der künstlich oder zeitfremd scheint.

Stephan Thomes "Gott der Barbaren" ist eines der wahrlich großartigen Leseerlebnisse des Jahres 2018. Auch wenn Inger-Maria Mahlkes Roman "Archipel" ein würdiger Gewinner des diesjährigen "Deutschen Buchpreises" ist, so hätte ihn "Gott der Barbaren" ebenso verdient.

(Roland Freisitzer; 10/2018)


Stephan Thome: "Gott der Barbaren"
Suhrkamp, 2018. 719 Seiten.
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