Liviu Rebreanu: "Der Wald der Gehenkten"


Krieg und Gewissen: Ein rumänischer Klassiker über Pflicht und Verantwortung im Ersten Weltkrieg

Bilder aus Geschichtsbüchern, zeitgenössische Presseberichte und literarische Quellen - die ersten Szenen in "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, Stefan Zweigs "Die Welt von Gestern" - lassen uns bis heute glauben, dass der Beginn des Ersten Weltkriegs weithin eine patriotische Jubelfeier gewesen sei, bei der im Glauben an rasche Siege gut gelaunte Soldaten, vom Volk bejubelt und von Frauen mit Blumen geschmückt, an die Front fuhren.

Liviu Rebreanu (1885-1944) erzählt eine gänzlich andere Geschichte, einen Roman seiner Zeit, eine Hommage an das eigene Gewissen zwischen den widerstrebenden Verpflichtungen gegenüber dem Vaterland Österreich-Ungarn und der rumänischen Nation.

Das Werk beginnt mit dem detailreich geschilderten Grauen unter einem Galgen. Leutnant Apostol Bologa, Rumäne aus Siebenbürgen, damals Teil der Doppelmonarchie, ist Mitglied eines Kriegsgerichts an der russischen Front. Svoboda soll vor der versammelten Mannschaft als Deserteur hingerichtet werden. Der tschechische Unterleutnant war an der Front, abseits der Truppe, mit Landkarten und Lageplänen aufgegriffen worden. Das Gericht fällt das Urteil einstimmig; doch in Gesprächen und Gedanken ist die todbringende Entscheidung weiterhin Thema und bestimmt das Leben Bologas und den Verlauf des Romans.

Eine militärische Auszeichnung gibt Bologa Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem zuständigen General Karg. Inständig bittet er ihn, irgendwohin, nur nicht an die rumänische Front, geschickt zu werden. Doch der Vorgesetzte kanzelt ihn ab. Zwischen den Feinden des Vaterlandes Unterschiede zu machen, sei kriminell. Doch gerade um diese Unterschiede bewegen sich endlose Diskussionen mit anderen Offizieren, mit dem Tschechen Klapka, der selbst desertieren würde, wäre er nicht zu feig dafür, mit Varga, dem pflichtbewussten und staatstreuen Husarenleutnant, mit Cerwenko, einem Ruthenen, der sich in einen religiösen Wahn flüchtet und es bis ins dritte Kriegsjahr geschafft hat, noch nie einen Schuss abzugeben.

Die befürchtete Abkommandierung in die Karpaten wird durch einen langen Lazarettaufenthalt nach einer schweren Verwundung verzögert; daran schließt sich ein Genesungsurlaub im Heimatdorf. Die frömmelnde Mutter und seine Verlobte Marta, eine so genannte gute Partie, sind ihm fremd geworden. Sein vor Jahren verstorbener Vater hatte ihn zeit seines Lebens gemahnt: "Tue deine Pflicht als Mann und vergiss niemals, dass du ein Rumäne bist!"

Entspricht dieser Mannespflicht die Soldatenehre in einem Heer, das sich mit Rumänien im Krieg befindet? Abseits der Front kann er als Leiter eines Munitionslagers im neuen Dienstort Făget in den Ostkarpaten vorerst seine Entscheidung aufschieben. Dort im Dörfchen verlobt er sich mit Ilona, der Tochter des örtlichen Totengräbers. Bald wird ihm dieser das Grab schaufeln müssen ...

Das Buch der Suche nach Identität und Gewissen wirkt fast einhundert Jahre nach seiner Erscheinung (1922) auf den ersten Blick fremd: Die Pflichten gegenüber dem Vaterland sind einem vagen Globalismus gewichen; das Diktum der Vorfahren gilt nicht als zukunftsfähig; der Bruch einer Verlobung hat keine Folgen mehr für das gesellschaftliche Ansehen einer Person.

Die zeitlos frische Sprache in der Übersetzung des aus Rumänien stammenden Georg Aescht holt den Roman ins Jetzt, übersetzt die Gewissenskonflikte aus einem eigentlich gar nicht so fernen Ort vor mehr als einhundert Jahren ins Jetzt und ins Allgemeine, ohne banal zu werden. Dabei nützt der Autor für den schicksalhaften Konflikt die Form der griechischen Tragödie. Das schicksalhaft katastrophale Ende ist unausweichlich. Die Spannung liegt in der Verzögerung und in den letztendlich nicht erfolgreichen Abwendungen der Bestimmung, im begrenzten Handlungsspielraum des tragischen Helden.

Im Nachwort erläutert der Literaturexperte Ernest Wichner, der wie der Übersetzer Aescht in Rumänien geboren und aufgewachsen ist, die literarische Bedeutung und die geschichtlichen Zusammenhänge des Werks. Seinem Text entnimmt man die biografische Notiz, dass Emil, der Bruder des Autors, als österreichisch-ungarischer Soldat im Jahr 1917 wegen Desertion hingerichtet wurde. Ihm ist das eindrucksvolle Werk gewidmet. Als historischer Impuls und als Klassiker einer europäischen Literatur ist es der Roman wert, nach allen Verwüstungen durch Weltkriege und Diktaturen aus heutiger Sicht gelesen und geschätzt zu werden.

(Wolfgang Moser; 10/2018)


Liviu Rebreanu: "Der Wald der Gehenkten"
(Originaltitel "Pădurea spânzuraţilor")
Übersetzt von Georg Aescht.
Mit einem Nachwort von Ernest Wichner.
Zsolnay, 2018. 350 Seiten.
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Liviu Rebreanu wurde 1885 in Tarlisua (Siebenbürgen) geboren und starb 1944 in Valea Mare (Rumänien). Er arbeitete als Dramatiker und Journalist. "Der Wald der Gehenkten" erschien im Original 1922 und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Noch ein Buchtipp:

Gabriela Adameşteanu: "Der verlorene Morgen"

Die rumänische "Suche nach der verlorenen Zeit". Die große Kunst des europäischen Erzählens im 20. Jahrhundert. Ein Klassiker, erstmals aus dem Rumänischen ins Deutsche übertragen von Eva Ruth Wemme.
"Der verlorene Morgen" umfasst bewegte Zeiten. Seine Handlung deckt das gesamte "kurze" 20. Jahrhundert ab. Seine Stimmen tragen durch die Jahrzehnte: Es entsteht eine panoramatische Geschichte eines ganzen Landes, gespiegelt in den Erlebnissen von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten.
Von der Gossensprache über die Rhetorik der Staatspropaganda bis zu den Resten einer vergangenen Bildungsbürgerlichkeit, von Bewusstseinsströmen bis zu brillanten Dialogen zieht "Der verlorene Morgen" alle Sprachregister.
"Der verlorene Morgen" ist ein Roman der Frauen und ein Roman des Alterns, in dem das Glück der Vergangenheit von Anfang an unter dem Unstern des persönlichen Scheiterns und der kollektiven Katastrophe des Krieges steht und an keinem Punkt ins Sentimentale oder Nostalgische abgleitet; vor allem aber ein Roman, der vom Leben und seinem Vergehen handelt. Das Kaleidoskop seiner unvergesslichen Figuren, Stimmen und Geschichten erzeugt eine den Leser mitreißende Melancholie.
Gabriela Adameşteanu, geboren 1942, ist als Schriftstellerin und Publizistin neben Norman Manea und Mircea Cărtărescu eine der wichtigsten Stimmen der rumänischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, und ihr Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sie war als Bürgerrechtlerin aktiv und Präsidentin des rumänischen "P.E.N." (Die Andere Bibliothek)
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