Guillermo Arriaga: "Der Wilde"


Auch wenn diese Beobachtung nur auf einem Gefühl beruht, so scheint 2018 das Jahr der langen, dicken Romane zu sein. Nino Haratischwilis "Die Katze und der General", Edoardo Albinatis "Die katholische Schule", C. E. Morgans "Der Sport der Könige" und Stephan Thomes "Gott der Barbaren" nur vier Beispiele, die, auch wenn komplett unterschiedliche Bücher, im Wettkampf der dicken Wälzer quasi vorne mitspielen.

"Der Wilde" von Guillermo Arriaga ist der nächste Wälzer, der vor wenigen Wochen auf dem Markt erschienen ist. Auch wenn das, was in diesem Roman passiert, alles Andere als erbaulich ist, so ist "Der Wilde" doch ein großartiger, spannender und teilweise atemberaubender Roman, der dem Leser viel abverlangt, ihn aber ebenso für die Begleitung durch die bizarr-schauerliche Welt Guillermo Arriagas belohnt.

Dass Arriaga in erster Linie aufgrund seiner Drehbücher und Filme bekannt ist, merkt man sehr rasch, da die Erzählweise dieses Romans extrem bildhaft anmutet. Alles ist in Szene gesetzt, man liest nicht nur, sondern sieht und riecht gleichzeitig das Geschehen. Diesem kann man sich nicht mehr entziehen und wird von diesem literarischen Tsunami regelrecht mitgerissen, bis man Ende erschöpft an Land geschwemmt wird. Dass Arriaga viele Jahre an diesem Roman gearbeitet hat und ihn acht Mal umgeschrieben hat, merkt man ihm überhaupt nicht an, im Gegenteil, er liest sich wie aus einem Guss geschaffen.

Lange scheint es so, als gäbe es in diesem Roman zwei nicht miteinander verbundene Erzählstränge, einer davon in Mexico City, der andere im Norden Kanadas angesiedelt. Der erste Protagonist, der seine Geschichte zum Besten gibt, ist der vierzehnjährige Juan Guillermo Valdés. Er leidet darunter, dass sein Zwilling im Mutterleib gestorben ist, sieht sich gar als Mörder seines Zwillings. Er ist ein wilder Bursche, der mit seinen Freunden durch die entlegensten Viertel von Mexico City streift, unzählige dumme Mutproben überlebt, nicht alle unbeschadet, und in der Schule ein regelrechter Rabauke. Sein großes Vorbild ist sein älterer Bruder, dem er gar nicht genug nacheifern kann. Es kommt allerdings noch schlimmer, denn eines Tages, am Tag der Mondlandung, wird sein älterer Bruder Carlos von einer Gruppe Fanatiker ermordet. Sie üben Lynchjustiz aus, so wie das in Mexiko leider immer öfter passiert. Erst vor wenigen Tagen wurden zwei unschuldige Männer, irrtümlich der Kindesentführung bezichtigt, vor einer Polizeistation erschlagen und verbrannt, ohne dass die Polizei eingreifen konnte. Diese Gruppe, die ihrer Meinung nach "Gutes" tut, bringt Unheil, Tod und Verderben in das Mittelstandsviertel Unidad Modelo. Als Juans Bruder getötet wird, befinden sich die Eltern in Europa auf einer Rundreise. Bald nach diesem Unheil sterben die Eltern und die Großmutter bei einem Autounfall. So bleibt Juan mit einem Boxer und zwei Wellensittichen alleine im Haus der Eltern zurück. Juan Guillermo ist belesen, erbt von seinem Bruder unzählige Bücher. Dass die Literatur eine wichtige Rolle in diesem Roman spielen wird, ist eine Vermutung, die sich als richtig erweisen wird. Juan rettet den bissigen Kettenhund der Nachbarn vor der Einschläferung und nimmt ihn zu sich.

Der zweite Erzählstrang handelt von einem Inuit, der in den im Norden Kanadas gelegenen Wäldern einem Wolf nachjagt. Auch diese Kapitel verfolgt man gespannt, nicht nur der fesselnden Erzählweise wegen, sondern auch, weil man kaum glauben kann, dass Arriaga eine elegante, sinnvolle Verbindung herzustellen vermag. Interessant ist hierbei auch, wie bedeutsam mythologische Anspielungen in die Erzählung eingeflochten werden. Wie stark die Symbolik, die hinter der Wolfsjagd steht, wirkt. Dass alles anders kommen wird, ist alles, was der Rezensent über diesen Erzählstrang verraten möchte.

Der gerettete Nachbarshund entpuppt sich irgendwann als Wolf aus Kanada, der natürlich deshalb so gefährlich ist, weil er vom Nachbarn falsch behandelt wurde. Juan Guillermo lässt sich dadurch allerdings nicht entmutigen und findet Menschen, unter Anderem einen Zirkusdompteur, die ihm bei der Zähmung des Wolfes behilflich sind. Dass der Zirkusdompteur bald eine väterliche Rolle einnimmt, ist vorhersehbar und tut dem leidgeplagten Jungen sehr gut. Ein weiterer starker Rückhalt im Leben Juan Guillermos ist Chelo, die ehemalige Freundin seines Bruders, die ihn in die Liebe einführt und seine treueste Partnerin wird.

Bei aller Brutalität, die in diesem Roman vorkommt, überwiegen jedoch die Menschlichkeit, die Liebe und eine kompromisslose Hingabe. Streckenweise ist es ein Roman einer absolut unorthodoxen Liebe, die sich an keine herkömmlichen Konventionen hält und dennoch so stark und unkorrumpiert ist, dass sie allem, was sie zerstören könnte, widersteht. Ohne das Rückgrat, das Juan Guillermo, Chelo und der Zirkusdompteur zweifellos besitzen, wären sie alle unter den widrigen Lebensumständen, die ihnen Arriaga auf den Leib geschrieben hat, längst verkommen. Der im Menschen herrschende innere Krieg zwischen dem Animalischen und dem Zivilisierten steht im Mittelpunkt dieser großen Erzählung. Je größer die Kontrolle, desto mehr Triebe schwelen in der Tiefe, nur um dort, wo die Ordnung aufgebrochen wird, das Schlechteste im Menschen an die Oberfläche zu spülen. Das ist vielleicht die im Hintergrund stehende Aussage dieses großartigen Romans, der noch lange nach der letzten Seite nachhallt.

(Roland Freisitzer; 11/2018)


Guillermo Arriaga: "Der Wilde"
(Originaltitel "El Salvaje")
Aus dem Spanischen von Matthias Strobel.
Klett-Cotta, 2018. 746 Seiten.
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Guillermo Arriaga, geboren 1958 in Mexiko-Stadt, gehört zu den bedeutendsten Drehbuch- und Buchautoren der Gegenwart. Von ihm stammen die Drehbücher zu der mit mehreren "Oscars" ausgezeichneten Filmtrilogie "Amores Perros", "21 Gramm" und "Babel". Neben seinen Drehbüchern hat er bislang drei Romane und einen Kurzgeschichtenband veröffentlicht.