Dragan Velikić: "Jeder muss doch irgendwo sein"


Selbstporträt mit Mutter oder Der mutmaßliche Lebensrückstand des Schreibenden

"Himmelherrgott!", winkte sie verächtlich ab. "Jetzt soll ich an allem schuld sein. In deinen Büchern kann ich nichts wiedererkennen. Als hättest du woanders gelebt. Wie kann man nur so vieles verpassen?"
(S. 44)
"Sie", das ist die Mutter, die sich gegenüber dem Autor (und auch sonst) kein Blatt vor den Mund nahm.

Der am 3. Juli 1953 in Belgrad geborene, zweimal mit dem "NIN-Literaturpreis" sowie dem "Mitteleuropapreis 2008" ausgezeichnete serbische Schriftsteller Dragan Velikić wuchs in Pula auf der Halbinsel Istrien auf und studierte in Belgrad vergleichende Literaturwissenschaft. In der "Milošević-Zeit" war er einer der wichtigsten kritischen Journalisten, hielt sich in Budapest und Berlin auf, von 2005 bis 2009 war er als Botschafter Serbiens in Österreich in Wien ansässig, heute lebt er in Belgrad.

"Jeder muss doch irgendwo sein", pflegte seine Mutter zu sagen, und so lautet - warum auch immer - der für die deutschsprachige Ausgabe des Romans gewählte Titel, wobei der Originaltitel schlicht "Ermittler" bedeutet.
Tatsächlich kommt Menschen und Orten in Dragan Velikićs Werk große Bedeutung zu, und mit seinem Roman nimmt der Autor ein weiteres Mal Ermittlungen bezüglich der Vergangenheit seiner Heimat auf, lässt in detailreich dargestellten Einzelschicksalen Geschichte nachklingen. Nicht von ungefähr nennt der begeisterte Mitteleuropäer Dragan Velikić Joseph Roth als seinen Lieblingsautor. Denn Joseph Roth, der anno 1939 in einem Pariser Armenhospital gestorbene Journalist und Schriftsteller, befasste sich in seinen Romanen vorwiegend mit der untergegangenen Welt im Zeichen des Habsburg-Mythos.

Die Übersetzerin Mascha Dabić wurde 1981 in Sarajevo geboren. Sie studierte Translationswissenschaft (Englisch und Russisch) und arbeitet als Übersetzerin (z.B. der Romane von Barbi Marković), Journalistin und Autorin. Sie ist überdies als Dolmetscherin im Asyl- und Konferenzbereich tätig. In ihrem Anfang des Jahres 2017 erschienenen Romanerstling "Reibungsverluste" bildete Mascha Dabić ihre diesbezügliche Erlebniswelt ab.

Ausgelöst durch den Tod der Mutter trat Dragan Velikić eine Reise auf den Spuren jener Frau, die immer alles penibel geordnet und sich stets präzise an Dinge, Orte und Personen erinnert hat - oder zumindest der Meinung war, ihre Erinnerungen entsprächen haargenau der Wahrheit - durch sein eigenes Leben an. Er bereiste, mitunter aufgrund dort stattfindender Buchmessen, erneut Pula, Thessaloniki und andere Städte, die vorzeiten das Familienleben über Generationen geprägt haben, zog Vergleiche zwischen einst und jetzt und erstellte dergestalt eine Überblendungstopografie der höchstpersönlichen Art, mit einander überlagernden Zeiten und Erinnerungen verschiedener Menschen, freilich dominiert von der Gestalt und den Aussagen seiner Mutter, die gewissermaßen hinter jeder Ecke hervorlugt.
Die immer alles Mögliche im Voraus bedenkende Mama mit ihrem Faible für Ordnung und unveränderliche Rituale, Hotels und Friedhöfe, Sparsamkeit, Klatsch und Tratsch sowie bessere Umgangsformen gab den Ton in der Familie an und regierte allem Anschein nach geradezu neurotisch mit herzlich harter Hand, sodass ihr Mann und ihre Kinder brav in ihrem Schatten funktionierten und ihr Wille geschah. "Niemals wurde irgendetwas klar ausgesprochen. Deshalb war meine ganze Kindheit von Gespenstern, Chimären und Lügen bevölkert." (S. 51)
Das lebendige Gedenken an die an Demenz leidende Mutter und ihre seinerzeitige Erinnerungsarbeit als Erbe fortzuführen, war also der entscheidende Antrieb des Autors, der sich in Budapest aufhielt, als seine Mutter nach Jahren im Altersheim, wo er sie natürlich auch gelegentlich besucht hatte, starb. "Die schläfrige Umarmung der Demenz war der Lohn Gottes für alle vorangegangenen Qualen und Ungewissheiten." (S. 47)

Man liest von längst verschwundenen Gebäuden, von untergegangenen Zünften und dem gedeihlichen Zusammenleben unterschiedlicher Volksgruppen, von Gerüchen und Sprachen, von Kriegswirren, von der lebenserfahrenen Lisetta mit ihren Wänden voller Fotografien, vom inzwischen greisen Uhrmacher und ehemaligen passionierten Jäger Maleša, von peinlichen Kinobesuchen mit der stets zu spät kommenden Mutter usw.
Manche Motive kehren mehrmals wieder, beispielsweise der ausgeraubte Zugwaggon, wodurch die Familie alle Habseligkeiten verlor, oder ein Spaziergang mit dem Großvater, und man gewinnt stellenweise den Eindruck, der Autor könne bzw. wolle sich in seiner eigenen Gegenwart niemals rechtzeitig einfinden; zu wuchtig drängen sich die Kindheitserinnerungen z.B. an einsame Grübelstunden in der Waschküche der Familienvilla ins Dasein, zu überlegen steht das Andenken an die alten Zeiten zwischen dem gemächlichen Spurensucher und seiner unmittelbaren Umgebung.

Es findet ein Donnerwetterauftritt der erbosten Schwester statt, der von der resoluten Mutter geforderte Roman, ausgehend von Lisettas bewegter Biografie, nimmt endlich Gestalt an (im Buch kursiv gedruckt, es handelt sich um sehr gelungene Passagen), weitere Namen gewinnen an Bedeutung, Familiengeheimnisse werden behutsam erkundet und tragische Schicksale von Enteignungen und Morden erzählt. Ergänzende Motive sind Orte, deren Blütezeiten längst der Vergangenheit angehören, verwaiste Bahnhöfe, Provinztristesse, das vor langer Zeit gestohlene Tagebuch der Mutter, verblasste Fotografien, die wachsende Sorge des Protagonisten, wie seine Mutter an Demenz oder Alzheimer zu leiden, eine Wollweste mit Einschusslöchern, Versuche, vergangene politische Entwicklungen zu erklären und den Zeitgenossen moralisierend ins Gewissen zu reden, Begegnungen mit alten Bekannten und Schriftstellern, hinzu kommen immer wieder psychologisch angehauchte Ansätze.
"Das richtige Erlebnis kam erst dann, wenn alles vorbei war. Man konnte nicht die Dividenden der Vergangenheit besitzen und gleichzeitig mit voller Kraft das Leben konsumieren. Während das Leben passierte, war er nur zum Teil im Erleben präsent, weil es ja galt, jedes Detail zu notieren. Erst bei der Wiederholung wurde er sich dessen bewusst, was er versäumt hatte. Deshalb lebte er rückwärtsgewandt. So wie seine Mutter." (S. 278)

Die Romankonstruktion besteht aus drei Großkapiteln: Im stellenweise langatmig geratenen ersten Teil berichtet der Icherzähler nabelbeschauend und bemüht allumfassend, somit ist leserseitig Durchhaltevermögen gefragt, im zweiten Teil erfolgt ein dankenswerter Perspektivenwechsel zu "Er" ("Er stand für sich selbst in der dritten Person." S. 206), dieser Abschnitt ist deutlich literarischer, auch historisch faktenreicher als der erste, und offenbart das Können des Autors in angemessener Weise. Der dritte Teil umfasst lediglich dreieinhalb Seiten, auf denen erneut der Icherzähler zu Wort kommt: Er wendet sich brieflich an seine Mutter und zieht anscheinend irgendeine Form von düsterer Bilanz.

Dragan Velikićs ehrgeizige Gedächtnisreportage bietet ausgesprochen wenig gegenwärtige Handlung, dafür umso mehr Seelenkunde, Geschichtsschmankerln und intensiven Nostalgieduft.

(S. Gabriel; 04/2017)


Dragan Velikić: "Jeder muss doch irgendwo sein"
(Originaltitel "Islednik")
Übersetzt aus dem Serbischen von Mascha Dabić.
Hanser Berlin, 2017. 320 Seiten.
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Mascha Dabić: "Reibungsverluste"
Eine Dolmetscherin erzählt. Nach zweieinhalb Jahren in Russland ist Nora wieder zurückgekehrt. In ihrer Arbeit als Dolmetscherin ist sie Sprachrohr für traumatisierte Flüchtlinge, ebenso wie für die Psychotherapeuten. Es fällt ihr zunehmend schwer, sich von den Leidensberichten der Flüchtlinge zu distanzieren und die verallgemeinernde Haltung von Politik und Gesellschaft zu akzeptieren. Daneben versucht Nora, ihr eigenes chaotisches Leben auf die Reihe zu kriegen.
Mascha Dabić zeigt in ihrem Roman eindrücklich eine kaum beachtete Seite der Flüchtlingskrise: die Dolmetscherin im Hintergrund. (edition atelier)
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