Theresa Schwietzer: "Ein Blick auf die andere Seite"

Totenkult und Jenseitsvorstellungen


Es gibt Bücher, die durch Sprache einen Zugang in nie für möglich gehaltene menschliche Urgründe ermöglichen. Sprache kann verzaubern, magische Momente erlebbar machen. Und es gibt auch Bücher, für die es gar keine Wörter bräuchte. Zeichnungen, Bilder, Illustrationen geben Einblick in eine Wahrheit, wo ein noch so ausführlicher Wortreigen nur wenig zu sagen hätte. Das Besondere an dem Werk Theresa Schwietzers sind der auf das Wesentliche konzentrierte Einsatz von Worten und gleichermaßen die zarten Einschübe einer aus Holzschnitten und farblich reduzierten Bunstiftzeichnungen generierten Mischtechnik.

Beim Erforschen des Buches hat sich der Rezensen dabei ertappt, immer wieder bei den Illustrationen zu verharren. Das Gefühl, eine Ausstellung zu durchschreiten und ergänzende Texte zu lesen, wenn es angemessen erscheint, hätte die Oberhand gewinnen können. Aber es ist wichtig und notwendig, auch die Texte zu lesen. Theresa Schwietzer, in Hamburg lebend, studierte Illustrations- und Kommunikationsdesign. Diese Kunst beherrscht sie voll und ganz. Die große Herausforderung, darüber schreibt sie auch am Ende ihres Werkes, war die sprachliche Komponente. Der Blick auf die andere Seite, also in das Jenseits und bestehende Totenkulte, hat Theresia Schwietzer, um es einmal so auszudrücken, aus ihrer Komfortzone herausschreiten lassen. Das Thema ist der Illustratorin und nunmehrigen Autorin ein persönliches Anliegen.

Das Motiv für die Gestaltung dieses Text-Foto-Bandes hängt für sie mit dem Gefühl von Unzufriedenheit zusammen. Mit ihrer Unzufriedenheit darüber, wie sie Begräbnisse erlebt hat. Unpersönlich, sogar die Namen der Verstorbenen wurden falsch ausgesprochen, alles irgendwie lieblos und wie eine lästige Notwendigkeit abgehandelt. Und nach dem Begräbnis einfach Kuchen zu essen, ist das nicht völlig hirnverbrannt? Theresa Schwietzer kann sich nicht vorstellen, dass ihr Begräbnis dermaßen ablaufen wird. Und so ist es verständlich, dass sie sich mit außerhalb Europas bestehenden Totenkulten und Jenseitsvorstellungen beschäftigt hat.

Der Umgang mit dem Tod ist in Haiti, Ecuador, Indien und Zentral- und Südafrika jeweils ganz speziell. Das Gemeinsame ist, dass den Toten ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Ob die Toten nun als Ahnen mit lebenden Familienmitgliedern auf verschiedene Weisen kommunizieren (Zentral- und Südafrika), als duale Seelen nacheinander die Trennung von der körperlichen Hülle vollziehen (Haiti), mit der Mutter Ganga eins werden (Indien) oder aber auch als Geister die Lebenden in das Totenreich entführen wollen (Ecuador), in jeder dieser Ausformungen von Totenkulten herrscht ein großer Respekt vor ihnen. Ein Respekt, der - so scheint es - in Europa keineswegs überall gegeben ist.

Der Tod ist in den beschriebenen Ländern oder Gebieten kein Tabu, er ist eine Lebensrealität, wird nicht unter Verschluss gehalten. Von Theresa Schwietzer in Sprache und Bild gesetzt, erscheint der Tod fast schon als Selbstverständlichkeit. Tatsächlich verliert der Tod sogar dann seinen Schrecken, wenn die Lebenden Angst vor den Toten haben, die ihnen auflauern und sie mit sich nehmen könnten. Die Bestattungskultur und die Trauerarbeit zeugen ebenso vom natürlichen Umgang mit dem Tod. Obzwar auch bizarre bis grauenhafte Auswüchse existieren, (so soll es in abgelegenen Gegenden in Indien immer noch Witwenverbrennungen geben), ist es angesichts dieses Buchs von Theresa Schwietzer angebracht, als Betrachter und Leser in sich zu gehen und selbst Fragen nach dem eigenen Umgang mit dem Tod, mit Verstorbenen, mit der Trauer, mit der Gestaltung von Begräbnissen zu stellen.

Die dargestellten Totenkulte und Jenseitsvorstellungen mögen gar nicht so unbekannt sein. Aber es handelt sich auch um kein Sachbuch im strengen Sinn, sondern um einen Blick auf die andere Seite, wo Bilder bestimmend sind und die Sprache nicht ausufert, sondern die Eindrücke sortiert und erklärt.

Die "Edition Büchergilde" legt hier ein Werk vor, das in dieser Ausformung als einzigartig bezeichnet werden kann. Theresia Schwietzer und dem Verlag ist somit ein kleines Meisterwerk gelungen.

(Jürgen Heimlich; 09/2017)


Theresa Schwietzer: "Ein Blick auf die andere Seite. Totenkult und Jenseitsvorstellungen"
Edition Büchergilde, 2017. 120 Seiten.
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