Thomas Macho: "Das Leben nehmen"

Suizid in der Moderne


Der eigene Tod, das eigene Leben. Eine moderne Kulturgeschichte des Suizids.

Friedrich Nietzsche formulierte vor mehr als hundert Jahren: "Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel, mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg." Selbstmord - eine Lebenstechnik? Oder ist es doch eher Mord oder aber vielleicht Selbstbestimmung? In den meisten Kulturen ist er verboten und lediglich unter bestimmten Bedingungen gestattet, oder er wird zumindest als Krankheit eingestuft. Und doch: Weltweit kommen mehr Menschen durch Suizid als durch Kriege oder Morde ums Leben. 2012 starben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation rund 800.000 Menschen durch Suizid. Befinden wir uns etwa gerade in einer Epoche der Umwertung, in der er zumeist nicht mehr tabuisiert, verteufelt und verfolgt wird?

Dieser Frage geht der Autor, Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte, in einer groß angelegten Studie nach. Als Titel wählte er den Begriff "Sich das Leben nehmen", der wohl am besten die Ambivalenz des Suizids ausdrückt. Er beansprucht sowohl die Aneignung des eigenen Lebens als auch seine Auslöschung. Anders als die im Deutschen gebräuchlichen Ausdrücke des Selbstmords, der ein Verbrechen impliziert, und des Freitods, der eine freie Entscheidung suggeriert, enthält er keine Bewertung, sondern verweist auf einen Prozess der Enttabuisierung, Entheroisierung und Entkriminalisierung, der sich in den Diskussionen der letzten Jahrhunderte vollzogen hat. Es ist eine Entwicklung weg von reinen Ver- und Geboten, hin zu einer individuellen Gestaltung des Lebens und des Todes. "Sich das Leben nehmen" heißt, sich das Leben mit dem damit verbundenen Tod zu seinem eigenen zu machen. Und ist für den Autor ein Wegweiser im intellektuellen Dickicht der Moderne, quer durch ihre Geschichte, Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Kunst, auf dessen verschlungenen Wegen er eine überwältigende Menge an Zeugnissen für die unterschiedlichsten Aspekte des Suizids sammelt.

Die Gretchenfrage lautet: Ist Suizid erlaubt oder verboten? Eine Frage, die folgerichtig zu der nächsten führt, nämlich, wem unser Leben eigentlich gehört. Je nach dem historischen Umfeld ist es Gott, der Staat, aber auch der Mensch selbst. Nach den Ahnen und Göttern waren es Staaten und Nationen, die einen Eigentumsvorbehalt geltend machten. Oft wurden alle drei Instanzen - Eltern, Gott und Staat - für ein Suizidverbot angeführt. Der Selbstmord war eine Verletzung der Pflichten, die man dem Staat, den Eltern, Freunden und Verwandten schuldig ist, und ein Verbrechen gegen den, der aus göttlicher Kraft das Leben gab. Noch bis 1961 galt in Großbritannien der Suizidversuch als Straftat. Schließlich handelte es sich um den Versuch, der Krone einen Untertan zu entziehen. Erst 2006 wurde in der Schweiz der Suizid zum Menschenrecht erklärt.

Die Frage nach dem Suizid als ein Leitmotiv der Moderne setzt Macho im Jahr 1751 an, als Friedrich II. in Preußen die Suizidstrafen aufhob. Genauso wie es Philosophen wie Montesquieu, Rousseau und David Hume forderten. Das Suizidverbot konnte auf die Grundregel zurückgeführt werden, dass er verboten ist, weil er zerstört, was einem nicht gehört, also das eigene Leben, das einem von den Ahnen, den Eltern, von einem Gott, von einem Herrscher, dem Staat oder der Gesellschaft gegeben wurde. Das Leben wurde also geschenkt, aber nicht als Besitz, sondern als Leihgabe. Dementsprechend stehen die geduldeten Ausnahmen, wie die Ehre als Grund für Suizide in antiken Kulturen, das Selbstopfer und Martyrium im christlichen Mittelalter und die Not seit der frühen Neuzeit, immer in Bezug zur lebensgebenden Instanz.

Inwiefern die Selbstbestimmung in der Moderne durch den Staat wiederum eingeschränkt wird, zeigt Macho anschaulich anhand der Suiziddebatte aufgrund der Schul- und der Wehrpflicht, deren Ausbildungsprinzipien bis weit ins 20. Jahrhundert vor allem auf Drill und Gehorsam fußten. Während jedoch Schülerselbstmorde ein unüberhörbares Echo in Gesellschaft und Kultur hatten, blieben Suizide im Militär weitgehend im Dunkeln. Denn die Verpflichtung zum möglichen Kriegseinsatz setzt den Anspruch auf das eigene Leben außer Kraft. Im militärischen Bereich bleibt Suizid Verrat. Macho befasst sich aber auch mit den von den Nationalsozialisten provozierten Suizidwellen unter der jüdischen Bevölkerung, thematisiert den Holocaust genauso wie die Suizide der Nazigrößen 1945.

Ausgangspunkt der Überlegungen von Macho ist eine These von Walter Benjamin: "So erscheint der Selbstmord als die Quintessenz der Moderne." Aber alle Diskussionen, die wir in diesem Buch finden, bezeugen keine Umwertung des Suizids, sondern eine ambivalente Faszination, schwankend zwischen Abwehr und Identifikation, moralischer Verurteilung und heroischer Idealisierung, Krankheitsdiagnose und ästhetischem Bekenntnis. Die Fülle des Materials, die Machos Studie zugrundeliegt, ist beeindruckend. Sie gibt der Arbeit Gewicht, aber auch Übergewicht, sodass die roten Fäden im historischen Gewebe gelegentlich verschwimmen.

Diese kulturhistorische Wanderung durch die letzten Jahrhunderte zeigt jedoch ausführlich die Betrachtung und den Umgang mit dem Suizid in seiner historischen Gebundenheit und intellektuellen Komplexität, lässt aber die Fragen zur konkreten individuellen Lebensbewältigung offen. "Ich bin glücklicher im Tod als im Leben", lautet die letzte Zeile aus Mary Vetseras Abschiedsbrief an ihre Mutter, die in Mayerling mit Kronprinz Rudolf Selbstmord beging. Eine Aussage, die nach Selbstbestimmung klingt, aber auf eine zentrale existenzielle Frage außer acht lässt: Es ist eine Hypothese, die wohl nur Bestand hat, wenn man in einem anderen Leben darüber reflektieren kann. Und das ist wiederum eine weitere unbewiesene Annahme.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2017)


Thomas Macho: "Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne"
Suhrkamp, 2017. 532 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen