Michail Schischkin: "Die Eroberung von Ismail"


Ein ausgezeichneter Roman, der erobert werden will

Nach Michail Schischkins Romanen "Briefsteller" und "Venushaar", die in den vergangenen Jahren Kritiker und Leser im deutschsprachigen Raum begeistert haben, erschien nun "Die Eroberung von Ismail". Dieser Roman ist in Wahrheit Schischkins Debütroman. Während die bereits in deutscher Sprache erschienenen Romane anspruchsvolle aber gut lesbare Texte sind, ist "Die Eroberung von Ismail" ein durchaus unbequemes und schwieriges Leseunterfangen, das, diese Vermutung möchte der Rezensent hier äußern, wahrscheinlich nicht allzu viele wohlmeinende Leser finden wird. Zu wirr, zu fremd und zu spezifisch ist das, was in dem Roman alles gesagt wird. Vor allem, wie es gesagt wird. Es ist ein Roman, der definitiv zumindest eine zweite Lektüre benötigt, wenn man in das Universum Schischkins eintauchen möchte. Die Verzweiflung, die einen bei der ersten Lektüre oft übermannt, löst sich erst beim erneuten Lesen auf, wenn man die Ideen und Aussagen Schischkins versteht. Oder zumindest meint, zu verstehen.

Zahlreiche Schicksale, Erzählperspektiven, Protagonisten, inhaltliche Ebenen und Stimmen bevölkern diesen ausufernden Roman. Nichtsdestotrotz sind zwei relativ bald als wichtigste Stimmen erkennbar. Da gibt es den Anwalt Alexander Wassiljewitsch, der Alexander Wassiljewitsch Urusow (1843-1900) zu sein scheint, eine fast sagenhafte Figur, die als Anwalt des kleinen Mannes in Erinnerung geblieben ist. Und Michail Schischkin. Beide Figuren weisen unzählige Ähnlichkeiten auf. Das Elternhaus und die Ehen der beiden, die unter keinem guten Stern stehen. Beider Männer Frauen leiden unter psychischen Problemen, die durch das Schicksal ihrer Kinder potenziert werden. Beide werden in eine Klinik eingewiesen.
Während Alexander Wassiljewitschs Sohn mit einer Behinderung zur Welt kommt, stirbt Michail Schischkins Sohn bei einem Autounfall. Beide Männer sind auffallend oft mit Zügen unterwegs, auch hier also eine Schnittstelle zwischen den beiden.

Allerdings sind diese beiden Geschichten, die sehr privat und detailliert erzählt werden, nur eine Ebene in diesem literarischen Meisterwerk. Michail Schischkin nutzt sie, um in diesen Lebenswegen Verbindung zur Geschichte Russlands und der Sowjetunion herzustellen. Fast so, also würde er den privaten Linien einen Spiegel vorhalten, der aufschlussreich zeigt, woher die Wunden kommen, woher der Schmerz und woher das Unbehagen kommt, das die beiden Männer und ihre Familien geformt hat. Gelitten wird viel in diesem Roman, und das nicht klischeehaft "russisch", wie man es sich gerne vorstellt. Es leiden in erster Linie die Mütter. Der Rezensent wagt hier die Vermutung, dass das Mutterleid natürlich ein Symbol für das Leid des Landes, das von Russland zur Sowjetunion und wieder zu Russland wurde, ist. Im Russischen ist es nämlich das Mutterland. Und das hat in allen Jahrhunderten ebenso viel gelitten. Zusätzlich lässt der Autor eine ganze Brigade von Stimmen aufspielen, die ebenso ein Spiegel der Geschichte des Landes zu sein scheint.

Die Situation und Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, mit all den Grausamkeiten, die, auch wenn sie im Schatten des Holocausts stehen, barbarisch und menschenverachtend waren und Millionen von Menschen das Leben gekostet haben, spielt ebenso eine Rolle wie die unzähligen Gulags und die Juden-Pogrome. Auch die Kriege in Afghanistan und Tschetschenien tragen dazu bei, dass dieser Roman den Leser zwingt, nicht aufzugeben, auch wenn er das Buch das eine oder andere Mal gerne in die Ecke pfeffern würde.

Und um eine kohärente Struktur zu ermöglichen, in der dieser Roman einen zumindest literarischen Rahmen hat, inszeniert Michail Schischkin einen literarischen Gerichtsprozess, in dem angefangen bei Kindesmord, Giftmord, über Diebstahl, die Durchführung von physischen Veränderungen an einer Leiche und unterlassene Hilfeleistung so ziemlich alles vorkommt, was in einem Gerichtssaal so verhandelt wird. In diesem Gerichtsprozess, der nämlich wirklich auch ein literarischer Prozess ist, in dem unzählige russische und sowjetische Autoren sowie deren Werke quasi ebenso vor Gericht stehen, wird eine Anspielung an die nächste gereiht, gegeneinander ausgespielt und in Verbindung mit Ereignissen gebracht, die wie Puzzlesteine letztendlich ein fast unüberschaubar großes, vielseitiges, vielstimmiges und umfassendes Ganzes ergeben, welches der Leser nicht so schnell vergessen wird. Auch sprachlich ist "Die Eroberung von Ismail" unendlich vielseitig, man findet jargonähnliche Passagen, altertümlich anmutende Stellen bis hin zu feinster, geschliffener Prosa.

Dass die Übersetzung von Andreas Tretner, der unter Anderem den faszinierenden russischen Autoren Alexander Ilitschewski, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin eine jeweils individuelle deutschsprachige Stimme geschenkt hat, kongenial ist, versteht sich von selbst. Besonders dankbar ist man für die vierundzwanzig Seiten mit Anmerkungen des Übersetzers, die stark zum Verständnis dieses Romans beitragen.

"Die Eroberung von Ismail" ist ein meisterhaft konzipierter Roman, erschreckend gut für einen Debütroman, der den gewillten Leser zwingt, langsam und mehrfach zu lesen. Wer diesen Willen aufzubringen bereit ist, wird belohnt, denn dieser Roman ist das, was viele als "originelle Texte" gepriesene und vermarktete Romane unserer Zeit meistens nicht sind: ein wahrlich origineller Text, der lange nachhallt und im Geist rumort, einfach weil man befürchtet, doch das Eine oder Andere übersehen, überlesen und nicht verstanden zu haben. Selbst wenn man nach der ersten Lektüre etwas ratlos ist, spürt man, dass man hier noch einmal durch muss, dass hier Schicht für Schicht freigestaubt werden muss, dass hier so viel verborgen ist, was man nicht missen möchte. Und das stellt, auch wenn es nicht einfach ist, ein Merkmal wirklich großartiger Literatur dar.

(Roland Freisitzer; 07/2017)


Michail Schischkin: "Die Eroberung von Ismail"
(Originaltitel "Wsatije Ismaila")
Aus dem Russischen von Andreas Tretner.
DVA, 2017. 505 Seiten.
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