Connie Palmen: "Idole und ihre Mörder"


"In einer Kultur, in der Identitäten in nachlassendem Maße vom Schicksal bestimmt werden und zunehmend eine Sache der persönlichen Entscheidung sind, schwingt nicht länger die nackte Wahrheit das Zepter. Heutzutage werden Identitäten zum Kauf angeboten. Jemand zu sein ist zu einer Frage von Maßarbeit und freier Entscheidung geworden, und damit fällt es jetzt in den Bereich der eigenen Verantwortung und der eigenen Schuld. Mit der Zunahme solcher Maßarbeit und freien Entscheidung haben fiktionale und theatralische Elemente Einzug in die moderne Kultur gehalten. Wir betrachten die anderen und uns selbst als die Regisseure der eigenen Existenz, und wenn das Theaterstück floppt, ist unser Urteil genauso schonungslos wie das irgendeines Rezensenten in der Zeitung." (S. 65)

Prominente und andere in der Öffentlichkeit Stehende sehen sich nicht selten mit über die Maßen zudringlichen Anhängern und auch erbitterten Gegnern konfrontiert, doch nur selten erfährt die Allgemeinheit von erfolgten Übergriffen. Im schlimmsten Fall mutieren jene Menschen, die sich irrigerweise in einer besonderen persönlichen Beziehung zu ihrem Idol/Hassobjekt wähnen, allerdings gar zu Mördern.

Ausgehend von ihren eigenen Erlebnissen mit einem todkranken Mann, der Connie Palmen Anfang der 1990er-Jahre regelrecht mit seiner Zuneigung verfolgt und ihr nachgestellt hat, analysiert die Autorin die Umstände verhängnisvoller Aufeinandertreffen von Prominenten mit fanatischen Verehrern ("Fanatismus ist selbstgewählte Gefangenschaft ohne Gefängnis." S. 35) bzw. gefährlichen Gegnern anhand einiger Fälle, die einst für Schlagzeilen gesorgt haben. Dabei dringt sie in die Denkweisen der zu Verbrechern gewordenen Menschen ein, schildert die biografischen Hintergründe und beleuchtet den "Werdegang" der zu Mördern Mutierten. Naturgemäß erfahren auch die zu Opfern Gewordenen entsprechende Darstellung.

Genau betrachtet werden die Fälle des Tierschutzaktivisten und Veganers Volkert van der Graaf, der am 6. Mai 2002 den niederländischen Politiker Pim Fortuyn ermordete; des sich voll und ganz mit Holden Caulfield, der Hauptfigur von J.D. Salingers Roman "Der Fänger im Roggen" identifizierenden Mark David Chapman, der den Popmusiker John Lennon nicht für eine reale Person hielt, ihn am 8. Dezember 1980 erschoss und seither im Gefängnis seine Strafe verbüßt; des fünffachen Mörders Andrew Cunanan, dessen letztes Opfer der Modeschöpfer Gianni Versace am 15. Juli 1997 war, und der Selbstmord beging, bevor er verhaftet werden konnte (das Motiv für seinen Amoklauf konnte nie geklärt werden) und der Radikalfeministin Valerie Solanas, die am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schoss.
Nicht zu vergessen die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy sowie der Attentäter John Hinckley, der am 30. März 1981 den damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan ermorden wollte, um solcherart die vergötterte Schauspielerin Jodie Foster zu beeindrucken.
"Ob es sich nun um Mark David Chapman, einen palästinensischen Selbstmordattentäter, ein Mitglied der Roten Brigaden oder Volkert van der Graaf handelt, jeder Mörder übertritt das Gesetz des Normalen aufgrund eingebildeter Außergewöhnlichkeit, vermeintlicher moralischer Überlegenheit, phantasierten Heldentums, kurz, aufgrund einer persönlichen Fiktion und Symbolik." (S. 29)

Moderne Attentäter und Fanatiker

Die tatsächliche oder auch nur scheinbare Aufhebung der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Schein und Sein, beschäftigt Connie Palmen immer wieder. In ihrem philosophischen Essay "Idole und ihre Mörder" behandelt sie ausführlich die gesellschaftlichen und zeitgeistigen Entwicklungen und erläutert kenntnisreich das gewachsene Gefahrenpotenzial einer erschreckend enthemmten und entgrenzten Massenmedienwelt, den ungesunden Einfluss einer konstruierten Scheinwelt auf gewisse Charaktere, die sich in absolut einseitigen Beziehungen verkriechen und irgendwann als menschliche Zeitbomben zu explodieren drohen.
"Für eine Philosophie des modernen Mordes muss man auf die Terminologie der Fiktion zurückgreifen. Mörder können ihr Opfer nicht als echte Person sehen. In ihren Augen ermorden sie eine Figur aus ihrem idiosynkratischen Filmszenario, Theaterstück oder Roman, ein Symbol, eine Ikone. Alles, nur nicht einen leibhaftigen Menschen." (S. 23)

Ihre äußerst sachlichen Überlegungen zu einseitigen Beziehungen veranschaulicht Connie Palmen beispielsweise anhand der Rollen des Psychiaters, der Nonne, der Hure und des Schauspielers. Es geht um Antrieb und Motive, Wahnvorstellungen, das Phänomen der Identität, Besessenheit, abnormale Identifikation, inszenierte scheinbare Wirklichkeiten in Film und Fernsehen, Berühmtheit, Ruhm und Ruhmsucht, Echtheit und Falschheit, den freien Willen und das Schicksal, um den heutigen Umgang mit dem menschlichen Körper, um Selbstmorde von Prominenten, um Identitätsprobleme, Verantwortung und Verantwortungslosigkeit ...

Neben dem vorhin bereits erwähnten Roman "Der Fänger im Roggen" beschäftigt sich Connie Palmen auch mit Patricia Highsmiths Roman "Der talentierte Mr. Ripley" und thematisiert zudem die Rolle des Schriftstellers im Gesellschaftsgefüge.
Connie Palmens Buch "Een kleine filosofie van de moord" erschien in den Niederlanden übrigens unmittelbar nach der islamistisch motivierten bestialischen Ermordung des provozierenden Filmemachers Theo van Gogh am 2. November 2004 durch Mohammed Bouyeri.

Connie Palmens ebenso kluge wie kritische Betrachtungen sind erschütternd aktuell und vermitteln An- und Einsichten wie diese: "Der Mörder und der Fanatiker beziehen ihre Identität aus einer einseitigen Beziehung zu einem Ideal, die sie zu Hütern von Gottes Geboten macht, zu Rettern der Menschheit, Beschützern wehrloser Tiere, Verteidigern des Rechts auf Grund und Boden, Rächern der verletzten Ehre." (S. 76, 77)
Mittlerweile wäre es jedoch extrem wichtig, ebenso die Auswirkungen interaktiver Computerrollenspiele und sogenannter sozialer Medien auf gewisse mutmaßlich identitätslose Charaktere zu analysieren - vielleicht im Rahmen einer Neuauflage ...

(S. Gabriel; 03/2017)


Connie Palmen: "Idole und ihre Mörder"
(Originaltitel "Iets wat niet bloeden kan. Over moord en roem, echt en onecht")
Aus dem Niederländischen übersetzt von Hanni Ehlers.
Diogenes, 2005. 104 Seiten.
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