Eka Kurniawan: "Schönheit ist eine Wunde"


Die blutige Geschichte Indonesiens

Vorweg, "Schönheit ist eine Wunde" ist ein wahrlich großer Roman. 444 reichlich bedruckte Seiten, auf denen sich unzählige Protagonistinnen und Protagonisten, Statisten, wichtige und unwichtige Nebenfiguren, zahllose Geschichten, Herrscher, Täter und Opfer tummeln. Fünfzig Jahre blutige indonesische Geschichte, die hier aufgebreitet sind. Eigentlich nicht überraschend, dass dieser Roman nur annähernd in einer sinnvollen Rezension zu erfassen ist.

"An einem Wochenendnachmittag im März und einundzwanzig Jahre nach ihrem Tod erhob sich Dewi Ayu aus ihrem Grab. Ein Hirtenjunge, der sein Mittagsschläfchen unter einem Frangipanibaum gehalten hatte, wachte, wachte auf, machte sich in seine kurzen Hosen und begann zu schreien, derweil seine vier Schafe panisch zwischen den Grabmalen aus Stein oder Holz umherrannten, als sei plötzlich ein Tiger in ihre Mitte gesprungen."
Mit diesen Sätzen beginnt der Roman des 1975 geborenen Eka Kurniawan, der wahrlich spektakuläre Eröffnungsseiten bietet. Kurniawan gilt als herausragender indonesischer Autor der jüngeren Generation, der die Stafette von Pramoedya Ananta Toer, dem Autor der grandiosen "Buru"-Tetralogie (geschaffen im Gefängnis), die erst neulich, als Indonesien Gastland der "Frankfurter Buchmesse" war, wiederaufgelegt wurde, übernehmen könnte. Stilistisch sind zwar fast keine Parallelen vorhanden, bis auf die Tatsache, dass beide die Geschichte ihres Landes literarisch verarbeiten. Während Toer eine realistische, fast an Tolstoi geschulte Erzählweise pflegte, ist Kurniawan am ehesten als Ziehsohn von Gabriel García Márquez unterwegs. Leider sind die nach "Schönheit ist eine Wunde" erschienenen weiteren Romane des Autors noch nicht in deutscher Übersetzung verfügbar, wie beispielsweise "Man Tiger" und "Vengeance Is Mine, All Others Pay Cash". Auch "Schönheit ist eine Wunde" musste ganze fünfzehn Jahre auf die deutsche Übersetzung warten.

Um seinem ausladenden Roman ein Zentrum zu bieten, erfindet er, nicht unähnlich dem "Macondo" von Gabriel García Márquez, die Stadt Halimundu. Ein wahrlich gelungener Kunstgriff, weil wechselnde Schauplätze das Konstrukt höchstwahrscheinlich zu Fall gebracht hätten. So erschafft er ein Epizentrum der Gewalt, das dem Leser genügend Anhaltspunkte bietet, um dranzubleiben, um Nähe zu den Figuren zu erlauben. Im Zentrum des Romans immer Dewi Ayu. Und ihre vier Töchter.

Dewi Ayu, die Auferstandene, war Prostituierte, die mit einhundertzweiundsiebzig Männern geschlafen hat. Der jüngste davon zwölf, der älteste neunzig Jahre alt. Wie unzählige indonesische Frauen von den japanischen Besatzern zur Prostitution gezwungen, bleibt sie auch nach dem Abzug der Japaner in diesem Gewerbe und wird zur berühmtesten und gefragtesten Prostituierten in Halimundu. Die familiären Hintergründe Dewi Ayus sind recht kompliziert. Sie ist die Tochter niederländischer Kolonialisten. Der Großvater vergewaltigt eine indonesische Frau und hält diese sechzehn Jahre von ihrem geliebten Ma Gedick getrennt. Quasi zur Wiedergutmachung, zwingt sie Ma Gedick, der mittlerweile ein alter, seniler Mann ist, zur Heirat. Da ihre ersten drei Töchter wunderschön sind und alle längst wissen, "wie man den Hosenschlitz der Männer öffnet", wünscht sich Dewi Ayu, als sie wieder schwanger ist, dass das Kind, falls es ein Mädchen wird, so unansehlich wie ein "Stück Scheiße" ist, damit ihr die Männer erspart bleiben. Die Hebamme muss lange überlegen, ob das, was sie da eben zur Welt gebracht hat, wirklich ein Mensch oder ein Häufchen Exkremente ist. Dewi Ayu nennt ihre Tochter "Schönheit". Jahre später, nachdem Dewi Ayu wiederauferstanden ist, lernt sie ihre Tochter erst kennen. Diese wartet täglich auf der Terrasse auf den Mann, der sie nimmt, und so den Fluch, der, wie sie meint, auf ihr lastet, zunichtemacht.

Vom niederländischen Kolonialismus über die extrem brutale japanische Invasion und den darauffolgenden indonesischen Völkermord von 1965/1966, der mindestens eine Million Indonesier (die für den Kommunismus eintraten) das Leben gekostet hat und für den unverständlicherweise noch kein einziger Machthaber oder Befehlsausführender belangt worden ist. Der Initiator dieses Völkermordes, Haji Mohamed Suharto, der das Land bis 1998 regiert hat, wurde im Jahr 2008 noch mit militärischen Ehren bestattet.

Nicht verwunderlich, dass es in diesem Roman brutal zugeht. Es wird viel gemordet, unendlich oft vergewaltigt und ebenso oft hingerichtet, so oft, dass man sich immer wieder freut, Seiten vorzufinden, auf denen niemandem Gewalt angetan wird. Nichtsdestotrotz nutzt Kurniawan das Mittel der Übertreibung und Dramatisierung nie im Sinn einer plakativen Effekthascherei. Eine blutige Geschichte braucht geeignete Mittel zur Darstellung. Punkt.

Kurniawans Figuren sind umsichtig gezeichnet und spielen teilweise gekonnt mit Klischees. Mayan Dengs, der Mann der zweiten Tochter Dewi Ayus und berüchtigtster Scherge, ist beispielsweise ein Charakter wie aus einem der Schundromane, die Eka Kurniawan als Jugendliche in Ermangelung anderer Bücher neben Horrorgeschichten und Comics zu schätzen gelernt hat. Allerdings nutzt Kurniawan genau diese Klischees, um aufzudecken, wie die Regierung, um ihre Gegner zu bekämpfen, mit Kriminellen gemeinsame Sache gemacht hat.

Im Trubel der Ereignisse hält Kurniawan die Spannung des Lesers konstant aufrecht, unerwartete und überraschende Wendungen führen hin und wieder bewusst in falsche Richtungen. Beinharte Satire, bissige Formulierungen und überspitzte Schärfe zeichnen Eka Kurniawans Prosa aus, die kongenial von Sabine Müller übersetzt worden ist. "Schönheit ist eine Wunde" ist ein großer Roman, ein sehr wichtiger Roman, der den Leser mit voller Absicht an die Grenzen des Erträglichen führt, der, auch wenn er leicht lesbar ist, definitiv keine leichte Kost darstellt. In den späteren Romanen hat Eka Kurniawan sein Schreiben um eine poetische und magische Note bereichert, seine Prosa ist farbiger geworden, ohne die Härte, die ihr eigen ist, zu verlieren. Man kann nur hoffen, dass diesem Roman die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird, damit auch die anderen Bücher Kurniawans bald in deutscher Sprache folgen.

Sehr empfehlenswert, nicht nur für Leser mit Interesse an indonesischer Geschichte.

(Roland Freisitzer; 08/2017)


Eka Kurniawan: "Schönheit ist eine Wunde"
(Originaltitel "Cantik Itu Luka")
Aus dem Indonesischen von Sabine Müller.
Unionsverlag, 2017. 444 Seiten.
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Eka Kurniawan wurde 1975 in der Nähe von Tasikmalaya in Westjava, Indonesien, geboren. Er studierte Philosophie an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta. Sein Studium schloss er mit einer Arbeit über Pramoedya Ananta Toer und den sozialistischen Realismus ab. Neben Romanen und Kurzgeschichten schreibt er Drehbücher und Essays, zudem bloggt er, zeichnet Comics und beschäftigt sich mit Grafik. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.