Irene Diwiak: "Liebwies"


Die Gräfin der Stille

Jedes Jahr erscheinen unzählige Debütromane, die von den jeweiligen Verlagen mit immer erfindungsreicheren Superlativen versehen um die Gunst der Leser werben. Wenn die Romane bereits in einer anderen Sprache erschienen und womöglich auch bereits prämiert sind, hat der Leser zumindest den Vorteil zu wissen, dass der Roman im Original schon gewisse Erfolge eingefahren hat. Was natürlich auch nicht bedeuten muss, dass es sich um ein Meisterwerk handelt. Die aufgrund der Kurzbeschreibung erfolgte Wahl von "Liebwies" hätte natürlich auch eine Enttäuschung bieten können, einfach schon deshalb, weil Romane, die sich mit der Musik beschäftigen, nur in den seltensten Fällen wirklich überzeugen. Zu sehr verweigert sich die Musik der Literatur. Zumindest im Kern. Zu schwülstig, zu abgehoben, zu idealisiert, zu weit weg von der Wirklichkeit sind diese literarischen Werke meistens. Außer Helmut Kraussers "Melodien", Thomas Bernhards "Der Untergeher" und den Beiträgen Thomas und Klaus Manns gibt es da fast nichts, das zumindest diesen Rezensenten restlos überzeugt hätte.

Hoffnungsfroh schlägt man den Debütroman "Liebwies" der 1991 in Graz geborenen Autorin also auf und erfährt bereits im Prolog, dass diese Geschichte später anders erzählt werden würde. Na dann, so soll es sein.
Es ist aber nun einmal die seltsame Eigenschaft der Zeit, Geschehenes in schwammige Erinnerung und schließlich in Lügen zu verwandeln.
Somit, Bühne frei für diesen Roman, der für sich selbst so etwas wie "große Oper" darstellt, wenn dieser Begriff überhaupt zulässig ist.

Der Musiklehrer Walther Köck, der im Ersten Weltkrieg seine linke Nasenhälfte verloren hat, kehrt von der Front zurück und muss feststellen, dass seine Frau bereits Ersatz (mit ganzer Nase) an ihrer Seite und im gemeinsamen Haus gefunden hat. Zusätzlich ist sein Lehrerposten ebenso anderweitig vergeben. Unwillig, um Frau oder Lehrstelle zu kämpfen, zieht er los. Irgendwohin, egal wohin. Nur weg. So kommt es, dass er sich nach Liebwies verirrt, anders kann man es nicht sagen, ein kleines Dorf, das nicht einmal auf Landkarten verzeichnet ist. In Liebwies, wo 1924 noch ein früheres Jahrhundert herrscht, bewirbt er sich als Lehrer, ohne Salär, nur gegen Kost und Logis. In Liebwies lernt er die Schwestern Karoline und Gisela kennen. Gisela wunderschön, aber nicht mit schöner Stimme gesegnet. Karoline mit göttlicher Stimme, aber hässlich.
"Dieses Mädchen allerdings entbehrte jeder Attraktivität: Es war ungewöhnlich groß und breitschultrig, hatte ein flaches, breites Gesicht mit winzigen Augen und wildes Haar, welches in zwei ungleich große Zöpfe geflochten war. Seine Bewegungen waren behäbig, irgendwie behutsam, und führten trotzdem nie zum Ziel."

Köck ist so beeindruckt von ihrem Talent, von ihrer engelsgleichen Stimme, dass er sich zum Ziel setzt, ihr den Weg zu einer großen Gesangskarriere zu ebnen. Er ersinnt eine List, um einen alten Bekannten, Christoph Wagenrad, nach Liebwies zu holen, damit er bei diesem Vorhaben behilflich ist. Da er aber doch unsicher ist, lässt er die hübsche Schwester zu Beginn des Konzerts das "Schubert Ave Maria" singen. So soll gewährleistet sein, dass Wagenrad Karolines Stimme noch eindeutiger würdigen kann. Es kommt, wie es kommen muss, und Christoph Wagenrad, der in Gisela seine verstorbene Frau verkörpert sieht, übersieht Karoline und nimmt Gisela mit in die Stadt. Sie soll der nächste Stern am Opernhimmel werden. Um das zu erreichen, scheut er nicht einmal vor Erpressung zurück, um ihr ein Studium am Konservatorium des berühmten Herrn Zwirbels zu ermöglichen.

Da er bald feststellt, dass die Stimme Giselas doch nicht jene ist, die ihn so fasziniert hat, muss eine Oper her, die ihrer Stimme gerecht wird. Hier kommt der Dichter und Möchtegernkomponist August Gussendorff zum Zug, der gewisse Ähnlichkeiten mit einem unblutigen Hermann Nitsch aufzuweisen scheint. Dieser ehelicht gerade rechtzeitig Ida Padinsky, die seit ihrer Kindheit in der verschrobenen Familie Padinsky, herrlich übrigens auch die Einführung in die Familiengeschichte der Padinskys, Klavier spielt und insgeheim komponiert. Ida ist eine starke, junge Frau, die leider in einer Epoche lebt, in der die Frau gehorsam sein muss und vor allem nicht komponieren soll. Ida, die sich in Wahrheit vom gleichen Geschlecht angezogen fühlt, heiratet Gussendorff nur um ihrer Mutter ein Schnippchen zu schlagen und aus einer Trotzreaktion heraus.
"Sie tippte eben die richtigen Tasten hübsch im rechten Rhythmus, aber der Geist, Musik zu verstehen, fehlte ihr, wie jeder Frau, und auch den meisten Männern, fand Gussendorff. Ihr Busen hatte jedoch hübsch gewippt unter ihrer Bluse, wenn sie so erzählt hatte, und das war eine Abwechslung gewesen."

In dieser so patriarchalischen Zeit, in der Männer meinen durften, dass Frauen nur gewisse Rollen einzunehmen hatten, dass Frauen schöpferisch nicht tätig sein durften, dass Frauen zwar reproduzierend künstlerisch tätig sein durften, auch wenn das im besten Fall nur durch einen hübsch wippenden Busen gerechtfertigt war, komponiert Ida trotz des Verbots ihres Mannes weiter. Allerdings für die Schublade. Und in dieser Schublade findet Gussendorff im letzten Moment, als er sich schon im Bemühen, die Oper für Wagenrad zu komponieren, gescheitert sieht, die Musik seiner Frau und verwendet sie für seine Oper.

Die Oper wird ein sensationeller Erfolg, Gussendorff für seine Musik gefeiert. Gisela Liebwies, die aus Unkenntnis ihres Nachnamens "die Liebwies" wird, der neue Stern am Opernhimmel.

Doch nichts ist so, wie es scheint, und all die wundervoll gelegten Bächlein werden zu Flüssen. Nach Gussendorffs Tod bricht Ida mit Gisela aus. Ein kurzer, intensiver Ausbruch, der weder Ida noch Gisela zu Glück verhilft. Zu stark, eigensinnig und klug die Eine, zu dumm und narzisstisch veranlagt die Andere. Die zunehmende Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten durchmischt die Karten am Ende neu.

Die immense Stärke dieses Romans ist Irene Diwiaks nur so sprudelnde Erzählkunst, ihre ungeheuer reiche Fantasie, die es ihr erlaubt, so viele Geschichten, Schicksale und Figuren zu zeichnen, dass man die Lektüre keine Sekunde unterbrechen möchte. Sie haucht jeder Figur Leben ein, sodass man sich bald fragt, wie sie das eigentlich macht.

Auch wenn Diwiak während der Uraufführung der Oper dann ein paar musikalische Beschreibungen doch misslingen, schmälert das den Eindruck, den dieses erzählerische Feuerwerk hinterlässt, keineswegs. Sie schreibt bissig, humorvoll, satirisch, zynisch und führt die ach so klugen, geistreichen Männer locker flockig aufs Glatteis, wo sie sich als das entpuppen, was sie eigentlich sind: einfältige, egozentrische und selbstverliebte Gockel, die hauptsächlich vom Privileg, als Mann geboren zu sein, zehren. Ebenso gelungen ist Irene Diwiak die Entlarvung der Musikwelt als Welt von falschem Glanz, Eitelkeit und Gier nach Ruhm und Erfolg. Auch wenn der Roman in den Zwischenkriegsjahren angesiedelt ist, ist viel von dem, was hier die (Musik-)Welt prägt, noch immer nicht überwunden. Komponistinnen haben bis heute das Nachsehen, auch wenn versucht wird, durch Förderquoten Gerechtigkeit herzustellen. Vielleicht trägt "Liebwies" ja ein wenig dazu bei, dass sich das verändert ...

Die Prosa der Autorin ist erfrischend und hat in allen Episoden einfach immer das jeweils richtige Tempo. Das ist ein Können, welches vielen etablierten Autoren fehlt. Da gibt es keine einzige Länge, keinen überflüssigen Satz. Es findet sich kein Nebenstrang (und von denen gibt es viele), der nicht irgendwann Sinn ergeben, keine Figur, die blass oder uninteressant bleiben würde. Packend ist die Geschichte ja auch noch. Und, aufgrund der Wendung am Ende, auch tragisch. Das ist pure Erzählkunst, chapeau!

Auf der Netzseite des "Hanser Literaturverlages" finden sich fünf Fragen an Irene Diwiak, die sie erfrischend ehrlich beantwortet. Auf die Frage, was sie sich von diesem Roman erwartet, sagt sie (u.A.): "Im schlimmsten Fall habe ich ein Buch geschrieben, das nur meine Mama interessiert." Der Rezensent gehört jedenfalls zu den Menschen, die dieses Buch nicht nur interessant, sondern auch faszinierend finden, und der hofft, dass der zweite Roman, der sich offenbar bereits in Arbeit befindet, möglichst bald nachfolgen möge.

(Roland Freisitzer; 07/2017)


Irene Diwiak: "Liebwies"
Deuticke, 2017. 335 Seiten.
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