Maria Dermoût: "Die zehntausend Dinge"
Lebensweisheit
          in Niederländisch-Indien
        
        Das in den Niederlanden bereits anno 1955 unter dem Titel "De
        tienduizend dingen" erschienene und damals begeistert aufgenommene Werk
        wurde anlässlich des Gastlandschwerpunktes bei der
        "Frankfurter Buchmesse" des Jahres 2016 neu übersetzt und
        aufgelegt.
        Im Mittelpunkt des poetischen, feinfühligen, nichtsdestotrotz
        lebensnahen Romans stehen die Daseinsumstände in der damaligen
        Kolonie Niederländisch-Indien, fußend auf der
        Autobiografie der am 15. Juni 1888 auf einer javanischen Zuckerplantage
        geborenen Autorin Helena Anthonia Maria Elisabeth
        Dermoût-Ingerman. Die in den Niederlanden zur Schule
        gegangene und später mit ihrem Mann, der als Jurist
        tätig war, für Jahrzehnte nach
        Niederländisch-Indien zurückgekehrte Schriftstellerin
        veröffentlichte ihre Texte erst relativ spät, ab dem
        Alter von 63 Jahren.
        
        Majestätisch über allem thronende Hauptdarstellerin
        ist eine Insel in den Molukken, sie fungiert als Bühne, auf
        der Maria Dermoût einprägsame Figuren auftreten
        lässt. Der Roman besticht mit zeitdokumentarischen
        Begebenheiten ebenso wie mit zauberhaften Details und üppigen
        Beschreibungen der Pflanzen- und Tierwelt. Beleuchtet werden
        primär Wohl und Wehe von Generationen holländischer
        Gewürzplantagenbesitzer, ihre Lebensart in der damaligen
        Kolonie und ihr Zusammenleben mit Einheimischen.
        Umgeben von der prachtvollen, jedoch mitunter durchaus
        gefährlichen Flora und Fauna sowie dem unberechenbaren Meer,
        hinterlassen Maria Dermoûts Protagonisten sozusagen ihre
        Fußabdrücke im Sand am Ufer des Schicksals.
        Einfühlsam werden auch Sitten und Gebräuche der
        Einheimischen eingeflochten, von der Autorin bemerkenswert ausgewogen
        beschriebene Begegnungen zwischen Angehörigen
        unterschiedlicher Kulturkreise sorgen immer wieder für
        Spannungsmomente.
        Darstellungen von Lebenswegen und Ritualen im Wandel der Zeiten, ein
        Unglückshaus, die Bücher des Herrn Rumphius, das neu
        erfundene Märchen
        von der kleinen Muschel
        "Aschenbrödel", der Muscheltanz, die Sklavenglocke, die
        Kokospalme des Meeres, die Korallenfrau, wertvolle
        Einrichtungsgegenstände, ein spezieller
        Raritätenschrank mit einer "schönen
          Schublade", eine Muschelsammlung, magische Zierden, die mit
        Kuriositäten und unter Eingeweihten verrufenen
        Schmuckstücken Handel treibende Bibi (auf schaurige Weise wird
        sich eines Tages mit Muschelketten der kopfjagenden Berg-Alfuren ein
        Schicksalskreis schließen), exotische
          Speisen und
          Getränke, Spukgestalten, Erscheinungsformen von Glaube und
        Aberglaube, düstere Prophezeiungen und vieles mehr machen den
        bleibenden Wert von "Die zehntausend Dinge" aus.
        
        "Sie selbst hatte im Leben einiges erlitten: Die
          Großmutter, der sie alles zu verdanken hatte, war tot, ihre
          Eltern ebenfalls - die hatten sich aber nie viel aus ihr gemacht,
          Geschwister hatte sie keine, ihr Mann - niemand wusste wirklich
          über ihn Bescheid: ein 'feiner Herr', hieß es, doch
          niemand kannte ihn, er war nie auf der Insel gewesen, war wohl schon
          vor vielen Jahren gestorben; und jetzt, vor nicht allzu lange Zeit,
          auch noch ihr Sohn, ihr einziges Kind." (S. 25)
        
        Die Kapitel tragen folgende Titel: "Die Insel", "Der Kleine Garten",
        "Der Regierungskommissar", "Constance und der Matrose", "Der Professor"
        und "Allerseelen". Atmosphärisch dicht, wobei Maria
        Dermoût den Figuren stets ihre Geheimnisse belässt,
        wird zunächst von einer holländischen
        Gewürzplantagenbesitzerfamilie berichtet. Die Schicksale der
        lebenserfahrenen Großmutter, der ersten "Frau vom Kleinen
        Garten", und ihrer Enkeltochter Felicia sowie deren Sohn Himpies und
        treuer Hausangestellter werden mit großer Behutsamkeit vor
        dem Leser entfaltet. Es geht um alleinstehende Frauen, die
        Notwendigkeit, mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und magischen
        Gegenständen Geld für den Lebensunterhalt zu
        verdienen (damals in gewissen Schichten offenbar ein Tabu), um
        Generationenkonflikte; dies alles umrahmt von der opulenten Natur der
        zentralen Binnenbucht, in der Gerüchte über die
        Geister dreier vergifteter kleiner Mädchen und
        furchteinflößende Meereswesen ebenso
        präsent sind wie Glück und Unglück.
        
        "Die Insel" führt also ebenso schwelgerisch wie ernsthaft in
        die Szenerie von Felicias Welt ein und vermittelt ein Gefühl
        für Land und Leute, "Der Kleine Garten" bringt dem Leser
        Felicias Familiengeschichte in geraffter Form nahe, vor allem der
        stolzen, überaus lebenstüchtigen Großmutter
        kommt eine prägende Rolle zu. Nach einem Zerwürfnis
        zwischen dieser Großmutter und ihrer neureichen,
        oberflächlichen Schwiegertochter, Felicias Mutter, kehrt die
        junge Familie nach Europa zurück, doch siebzehn Jahre
        später, Felicias Mann hat sie und den kleinen Sohn Willem,
        genannt Himpies, verlassen, trifft Felicia wieder im Kleinen Garten an
        der Binnenbucht ein und lebt fortan bei ihrer Großmutter, von
        der sie viel über Menschen und Natur lernt. Gemeinsam erwerben
        die beiden Frauen aufgrund ihrer Tüchtigkeit und
        Geschichklichkeit weiteres Ansehen und einigen Wohlstand. Auch von
        Himpies' Kindheit und Jugend wird berichtet, und nachdem er sein
        Medizinstudium in
          Holland abgebrochen hat und an eine
        Militärakademie gegangen ist (die düsteren
        Vorahnungen seiner inzwischen verstorbenen Urgroßmutter
        sollen sich allzu bald bestätigen), kehrt auch er in den
        Kleinen Garten zurück. Eine ungünstige
        Affäre mit einer verheirateten Frau mit Kind, Begegnungen mit
        Himpies' Freunden und ein schrecklicher Todesfall beschließen
        vorerst die Geschichten über die Familie der Frauen vom
        Kleinen Garten.
        
        Eine der nunmehrigen Spukgestalten der Insel, "Der
        Regierungskommissar", findet ihr nasses Grab unter niemals
        gänzlich geklärten Umständen, nachdem der
        reiche Sonderling seine junge Frau und deren drei Tanten im versperrten
        Haus voller Kostbarkeiten nahezu wie Gefangene gehalten hat. Aus den
        polizeilichen Vernehmungspassagen spricht wohl die Erfahrung der
        Autorin, war doch ihr Mann als Jurist tätig.
        Auch das Kapitel "Constance und der Matrose" geizt nicht mit Elementen,
        die man wohl eher einem Kriminalroman zuschreiben würde. Die
        schöne, untreue Köchin Constance wird von einer
        dunklen Leidenschaft getrieben und hat eine ihr hündisch
        ergebene Freundin namens Pauline. Ein Matrose, Constances
        eifersüchtiger Ehemann und ein schönes Messer sind
        weitere Zutaten in dieser spannenden Mordgeschichte, die einige
        menschliche Abgründe offenbart.
        "Der Professor" handelt von einem exzentrischen schottischen Botaniker,
        der mit dem jungen vornehmen Javaner Radèn Mas Suprapto auf
        Studienreise durch die Molukken geht. Mit bemerkenswerter Kenntnis
        jeweiliger Besonderheiten der kulturellen und sozialen
        Hintergründe beschreibt Maria Dermoût die beiden
        Männer, die einander nicht vertraut sein können und
        doch ein gemeinsames Ziel verfolgen, was bisweilen für
        Verständnis und freundschaftliche Annäherungen, aber
        eben auch für Missverständnisse und Frustration
        sorgt. Doch auch diese Episode bietet unheilvolle Gestalten, das
        Wahrwerden einer düsteren Prophezeiung vom Seemannsgrab, eine
        Malariaerkrankung, visionäre Fieberträume und einen
        gewaltsamen Todesfall samt juristischem Nachspiel.
        Alle bestimmenden Motive und Figuren erfahren in der Schlussepisode
        "Allerseelen", am Gedenktag der Frau vom Kleinen Garten für
        die Ermordeten, abschließende Würdigung und lassen
        den Roman nach einer Schrecksekunde versöhnlich und besinnlich
        ausklingen.
        
        Anmerkungen, insbesondere Erklärungen zu fremdsprachigen
        Ausdrücken, eine Schwarzweißkarte
        Niederländisch-Indiens sowie eine Editorische Notiz
        komplettieren das liebevoll zusammengestellte Buch.
        Der exotische Zauber der Umgebung und die Erdverbundenheit der Figuren,
        festgehalten in alle Sinne ansprechenden, zeitlos wirkenden
        Beschreibungen von Land und Leuten, verleihen dem Roman auch heutzutage
        noch berückende Eindringlichkeit.
(S. Gabriel; 05/2017)
Maria
          Dermoût: "Die zehntausend Dinge"
        (Originaltitel "De tienduizend dingen")
        Aus dem Niederländischen übersetzt
von
          Bettina Bach.
        dtv Literatur, 2016. 263 Seiten.
        
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