José Eduardo Agualusa: "Eine allgemeine Theorie des Vergessens"


Nach der Kolonialherrschaft ...

José Eduardo Agualusa ist wahrscheinlich der wichtigste literarische Chronist Angolas. Seine vielfach ausgezeichneten Romane beschäftigen sich alle irgendwie mit den Wunden, welche die portugiesische Kolonialherrschaft in Angola aufgerissen hat. Wunden, die im chaotischen Angola der Zeit danach nur notdürftig und oberflächlich behandelt wurden. Seine Bücher legen Finger in die Wunden und suchen nach Möglichkeiten, das Geschehene zumindest in der Literatur zu verarbeiten. Das wäre natürlich noch kein literarisches Gütesiegel, wenn der 1960 in Huambo geborene Agualusa nicht so schreiben könnte, wie er das tut. Der hier vorliegende Roman befand sich auf der Auswahlliste des "International Man Booker Prize" und gewann den wichtigen "Dublin Literary Award 2017".

In 39 kurzen Kapiteln erzählt er viele Geschichten, die elegant ein großes Ganzes ergeben. Indem er sich kreuzende Erzählstränge webt, beleuchtet er die Geschichte der Hauptprotagonistin Ludovica immer wieder neu. So entsteht ein vielstimmiges Werk, ohne dass der Autor Partei ergreifen würde.

Wie Augualusa in seiner Vorbemerkung erwähnt, starb Ludovia Fernandes Mano am 5. Oktober 2010, 85-jährig in einer Klinik in Luanda. Der Autor kam in den Besitz von Tagebüchern, die sie in den ersten achtundzwanzig Jahren ihrer selbst gewählten Klausur geführt hat. Diese Schriften, sowie weitere Tagebücher, die sie nach ihrer Rettung geführt hat, und Kohlezeichnungen an den Wänden ihrer Wohnung öffneten ihm eine Welt, die er literarisch nachempfunden hat. Denn das, was hier als Roman vorliegt, ist, auch wenn es auf einer wahren Begebenheit basiert, ein Werk der Fiktion. Reiner Fiktion.

Wir stehen am Vorabend der angolanischen Revolution. Da ist Ludovica, die nach dem Tod ihrer Eltern zu ihrer Schwester Odete gezogen ist. Die Stimmung in der Stadt und im Land ist angeheizt, niemand weiß, wie es weitergehen wird. Wer die Oberhand behalten wird, wer für Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppierung belohnt oder verdammt sein wird. Odete drängt ihren Mann Orlando zum Verlassen des Landes, die Sicherheit geht vor. Ludovica soll ebenfalls mit. Nur so lange, bis klar ist, wie es weitergeht.
Als die Koffer bereits gepackt sind, verschwinden Odete und Orlando spurlos. Obschon Ludovica ahnt, dass den beiden etwas zugestoßen sein muss, entscheidet sie sich dazu, zu bleiben und auf die beiden zu warten.

Mysteriöse Männer melden sich telefonisch und verlangen den Mais. Oder die Steine. Ludovica, die keine Ahnung hat, was die Männer wollen, findet allerdings nur eine Pistole und einige Hundertdollarscheine. Als die Männer dann plötzlich bedrohlich mit einem Brecheisen vor der Tür ihrer Wohnung stehen, passiert das Unheil. Sie erschießt einen der Männer eher zufällig. Seine Komplizen fliehen, und Ludovica begräbt die Leiche des Mannes auf ihrer Dachterrasse in einem großen Blumenbeet. Mit dem von einem begonnenen Schwimmbecken übrig gebliebenen Zement, Sand und Backsteinen mauert sie ihre Wohnungstür zu. Und verlässt fast dreißig Jahre ihre Wohnung nicht.

Während dieser Zeit verändert sich das Land. Die Wege von Opfern und Tätern kreuzen sich. Die Beteiligten der Revolution finden Wege, weiterzuleben, manche profitieren, andere verlieren. So leuchten immer wieder andere Stimmen aus Agualusas fein gesponnenem Text, der auch Radioauszüge einfließen lässt.

Das Wohnhaus ist in der Zwischenzeit zu einem noblen Haus geworden. Lange fällt niemandem auf, dass in dem Stockwerk eigentlich noch eine Wohnung sein müsste. Ludovica ist quasi unsichtbar geworden. Ihre Aufzeichnungen geben Aufschluss darüber, wie sich die Welt in ihren Augen, von der Terrasse aus, verändert hat. Ihre Kohlezeichnungen an den Wänden zeigen jene Dinge, die sie sieht. Unter Anderem ein Zwergnilpferd auf einem Balkon. Sie lebt von den Früchten und dem Gemüse, das auf ihrer Terrasse wächst. Ein Huhn schnappt sie sich von einer unter ihr liegenden Terrasse. Agualusa lässt hier seiner Fantasie freien Lauf und schafft so eine lebendige, originelle Variante eines magischen Realismus, die faszinierend und überzeugend ist.

Eines Tages klettert ein kleiner Junge über ein Gerüst in Ludovicas Wohnung und leitet so, langsam aber sicher, das Ende ihrer Einsamkeit ein. Alles bewegt sich, bis eines Tages die überlebenden Beteiligten vor ihrer nun eingerissenen Mauer stehen.

Viele Szenen diesen berührenden Romans sind wirklich unvergesslich. So wie die Szene, in welcher der angeschossene und verblutende junge Mafioso bemüht ist, den Teppich Ludovicas nicht mit seinem Blut zu besudeln. Er bitte darum, nicht die Rettung zu rufen, da er sonst von "denen" getötet wird. Er bittet Ludovica darum, ihm angolanische Lieder vorzusingen, die für beide Teil ihrer Kindheit sind. Scheinbar leicht gezeichnet, offenbart sich dem Leser auf frappierende Art und Weise, wie unsinnig Krieg und Bürgerkrieg sind, vor allem, wenn das, was die Menschen verbindet, eine Gemeinsamkeit ist. Und das ist wirklich nicht nur spezifisch für Angola.

"Eine allgemeine Theorie des Vergessens" ist ein wahrlich wundervoller Roman, außerdem ausgezeichnet von Michael Kegler übersetzt. Ein Roman, der lange im Gedächtnis bleibt, dessen Figuren sich tief ins Bewusstsein einprägen, ebenso wie die Erkenntnis, dass alles möglich ist, wenn man daran glaubt. Und dass die Literatur mit diesem Roman wieder einmal großartigen Zuwachs bekommen hat, der hoffentlich zahlreiche Leserschaft finden wird.

(Roland Freisitzer; 07/2017)


José Eduardo Agualusa: "Eine allgemeine Theorie des Vergessens"
(Originaltitel "Teoria Geral do Esquecimento")
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler.
C.H. Beck, 2017. 195 Seiten.
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